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Boxenstopp im Untergrund

Das Grubenrettungsfahrzeug MRV 9000, das die Drägerwerk AG & Co. KGaA, Lübeck, gemeinsam mit dem kanadischen Bergbauunternehmen Goldcorp Inc. sowie der deutschen Hermann Paus Maschinenfabrik GmbH, Emsbüren, entwickelt hat, setzt neue Maßstäbe bei der Grubenrettung. Es wurde bei der International Mines Rescue Body Conference (IMRB) am 8. September 2015 in Hannover erstmals öffentlich präsentiert.

Autor:
Steffan Heuer, freier Autor, San Francisco/USA

Wollte man Bergbau im 21. Jahrhundert mit drei Worten umreißen, dann mit diesen: tiefer, länger, komplexer. Der technische Fortschritt und die wirtschaftlichen Gegebenheiten unter Tage sorgen heute dafür, dass Bergwerke weiter in die Tiefe und Fläche vorangetrieben werden, um Bodenschätze wie Gold, Eisenerz, Salz oder Kali abzubauen. Diese Expansion stellt auch Grubenwehren vor neue Herausforderungen – müssen sie doch im Notfall die entlegensten Winkel einer Grube erreichen können, um aktiv zu werden, und anschließend wieder sicher zurückzukehren. Die Menge an Atemluft, die die Grubenwehrtrupps mit sich führen können, gehört zu den beschränkenden Faktoren bei der Planung von Flucht- und Rettungsabläufen.

Fig. 1. Driving simulation of the MRV 9000. // Bild 1. Fahrsimulation des MRV 9000. Photo/Foto: Dräger

Fig. 1. Driving simulation of the MRV 9000. // Bild 1. Fahrsimulation des MRV 9000. Photo/Foto: Dräger

Eine innovative Antwort auf diese Herausforderung lässt sich in der Musselwhite Mine besichtigen, die das kanadische Unternehmen Goldcorp Inc. im Nordwesten der Provinz Ontario betreibt. Dort ist seit Herbst 2015 ein neuartiges Grubenrettungsfahrzeug namens „Mines Rescue Vehicle“ (MRV) 9000 im Einsatz, das der deutsche Technologiekonzern Drägerwerk AG & Co. KGaA aus Lübeck, in Kooperation mit Goldcorp und der Hermann Paus Maschinenfabrik GmbH, Emsbüren, entwickelt hat (Bild 1). Die Entstehungsgeschichte des MRV 9000 illustriert, welche Früchte die enge Zusammenarbeit zwischen einem auf größtmögliche Sicherheit achtenden Bergbauunternehmen, einem führenden Anbieter von Medizin- und Sicherheitstechnik sowie einem renommierten Hersteller von Bergbaufahrzeugen tragen kann, um die Grubenrettung ins 21. Jahrhundert zu befördern.

Risiko erkannt, Gefahr gebannt!

Das MRV 9000 erlaubt es dem Rettungspersonal, auch die entferntesten Bereiche eines Bergwerks zu erreichen, ohne von der Reichweite der Atemschutzgeräte eingeschränkt zu werden. Goldcorp hatte das veränderte Risikoprofil sich immer weiter ausdehnender Gruben bereits vor fünf Jahren identifiziert und begonnen, sich mit Hilfe von Tests und Simulationen Gedanken über mögliche Lösungen zu machen. Das Bergwerk Musselwhite ist seit April 1997 in Betrieb und inzwischen in eine Teufe von 1.200 m vorgerichtet worden. Im Jahr 2014 produzierte die Mine rund 278.000 Unzen Gold. Der Ertrag hat seinen Preis: Musselwhite‘s horizontale Erstreckung unter Tage beträgt vom Hauptzugang aus inzwischen 12 km. Die Goldcorp-Untersuchung zeigte auch, dass Retter angesichts dieser räumlichen Erstreckung an ihre technischen Grenzen stoßen. Selbst bei guten Sichtverhältnissen und einer Fahrgeschwindigkeit von 25 km/h wäre ein Team etwa 45 Minuten unterwegs, um die entlegeneren Winkel der Grube zu erreichen. Die Grubenwehrtrupps müssten bereits während der Anfahrt ihre Atemschutzgeräte benutzen, die je nach Einsatzszenario Atemluft für bis zu vier Stunden bieten. Schlimmstenfalls würden die Trupps so zwar an den Einsatzort gelangen, müssten jedoch schon bald unverrichteter Dinge wieder umkehren, da ihr Atemluftvorrat an der kritischen 50 %-Marke angelangt wäre.

Das Fazit der Analyse: Bergwerke mit einer solchen räumlichen Ausdehnung liegen außerhalb der Reichweite herkömmlicher Atemschutzgeräte. Dieses Problem betrifft nicht nur Musselwhite, sondern auch andere Goldcorp-Standorte sowie Bergwerke von Bergbauunternehmen in aller Welt. Goldcorp´s Nachforschungen sorgten für eine innovative Initialzündung. Die Experten von Goldcorp und Dräger spielten über Monate verschiedene Szenarien durch, wie sich das Reichweitenproblem unter Tage sicher und effizient lösen ließe. Sie erörterten und verwarfen diverse Ideen, wie etwa zusätzliche Atemschutzgeräte an verschiedenen Punkten unter Tage zu deponieren oder eine Rettungskapsel als Anhänger hinter einem vorhandenen Fahrzeug mitzuführen. Da es keine brauchbare Lösung auf dem Markt gab, blieb am Ende der Gedanke, ein neues Fahrzeug zu entwerfen.

Wenn Atemschutzgeräte an Grenzen stoßen

Kent Armstrong von Dräger erinnerte sich in diesem Zusammenhang an einen Grubenbrand im Jahr 1965 in der MacIntyre Mine in Kanada. Das Unglück in rd. 1.500 m Teufe führte den Rettern vor Augen, dass Atemschutzgeräte mit zwei Stunden Einsatzdauer nicht mehr ausreichten, um in immer tieferen Gruben sicher und effektiv zu operieren. Das Kreislaufatemschutzgerät BG 174 von Dräger schloss Mitte der 1960er Jahre erstmals diese Sicherheitslücke. Es versorgte Einsatzkräfte mit bis zu vier Stunden Atemluft. Doch selbst dieser Standard reicht heute nicht mehr aus, wenn die Hin- und Rückreise zum entferntesten Punkt unter Tage jeweils fast zwei Stunden in Anspruch nimmt. Gleichzeitig sind dem Ausbau mobiler Systeme physische Grenzen gesetzt, da niemand ein Gerät auf dem Rücken tragen kann, das Atemluft für acht bis neun Stunden vorhält. Eine höhere Mobilität der Retter allein löst das Problem ebenso wenig. Rettungsfahrzeuge, die wie ein geländetauglicher Krankenwagen in die Grube einfahren, um Brände zu bekämpfen und Verletzte zu versorgen, während die Bergleute in sogenannten Flucht- und Rettungskammern ausharren, sind nichts Neues. Derartige Lösungen sind seit einigen Jahren im Einsatz. Was bislang fehlte, war ein Fahrzeug mit einer Luftversorgung, die von der Umgebungsluft unabhängig ist. Als beste Lösung stellte sich bei den Überlegungen ein Fahrzeug mit luftdichter Fahrerkabine und Kassette heraus, gemeint ist die mobile Rettungskammer, in dem ein Grubenwehrteam sicher unterwegs ist – und erst dann das eigene Atemschutzgerät aktiviert, wenn es am Einsatzort angekommen ist und aussteigen muss.

Fig. 2. First presentation of the MRV 9000 on the IMRB 2015. // Bild 2. Erstpräsentation des MRV 9000 auf der IMRB 2015. Photo/Foto: BG RCI

Fig. 2. First presentation of the MRV 9000 on the IMRB 2015. // Bild 2. Erstpräsentation des MRV 9000 auf der IMRB 2015. Photo/Foto: BG RCI

Eine solche Rettungskammer mit Allradantrieb entwarfen die Experten bei Goldcorp und Dräger. Zudem stieß man im Zuge der Planung auf die auf Bergbaufahrzeuge spezialisierte Maschinenenfabrik Herman Paus. Von der ersten Skizze bis zum fertigen Fahrzeug vergingen rund zweieinhalb Jahre, in denen die drei Unternehmen die technischen Anforderungen ausarbeiteten und immer wieder Änderungen vornahmen. Enthüllt wurde das MRV 9000 auf der International Mines Rescue Body Conference (IMRB) am 8. September 2015 in Hannover (Bild 2). Wenig später wurde es auf dem Mine Emergency Response Drill der amerikanischen Mine Safety and Health Administration (MSHA) in Missouri weiteren Tests unter realistischen Bedingungen unterzogen.

60 % Steigfähigkeit, bis zu 33 km/h schnell

Das Fahrzeug bietet Innovationen auf mehreren Ebenen, die insgesamt einen sicheren Transport – so nah wie möglich an den Einsatzort – erlauben. Mit einer Spitzengeschwindigkeit von 33 km/h und einer Steigfähigkeit von 60 % ist das Fahrzeug für den rauen Einsatz unter Tage ausgelegt. Voll beladen wiegt es rd. 9 t und agiert unabhängig von der Umgebungsluft, da Fahrerkabine und Kassette mit einem Spül-Luftsystem ausgestattet sind, das die Besatzung mit frischer Atemluft versorgt. Je nachdem, wie viele Personen sich an Bord befinden, kommt das MRV 9000 auf eine Betriebszeit von bis zu fünf Stunden: anderthalb Stunden für die Einfahrt, zwei Stunden am Einsatzort unter Tage und anderthalb Stunden für die Rückfahrt. Nach maximal 45 Minuten ist es wieder bereit für den nächsten Einsatz.

Sobald die mit persönlichem Atemschutz ausgerüsteten Rettungskräfte das Fahrzeug verlassen haben, kann der Luftstrom für die verbliebene Besatzung heruntergefahren werden, um Atemluft zu sparen. Fahrerkabine plus Kassette bieten insgesamt neun Personen Platz – einschließlich eines Schleifkorbs, um verletzte Kumpel in Sicherheit zu bringen. Damit liegt das MRV deutlich über der in Kanada gesetzlich vorgeschriebenen Grubenwehr-Truppstärke von fünf Personen. In den Fahrzeugen, die bereits von Goldcorp genutzt werden, strömt Atemluft aus insgesamt sechs Gasflaschen mit jeweils 6.000 PSI – sie sind in zwei Gruppen zu jeweils drei Zylindern an beiden Seiten im Vorderteil der Kassette eingebaut. Um das Fahrzeug nach einem Einsatz so schnell wie möglich wieder bereitzustellen, entwickelte man ein hydraulisches Hubsystem, mit dem die Gasflaschen innerhalb von 15 bis 20 Minuten gegen einen unverbrauchten Satz ausgetauscht werden können. Das MRV 9000 verfügt darüber hinaus über ein umfassendes Gasüberwachungssystem, das die Konzentration von Sauerstoff, Stickstoffdioxid, Methan und Kohlenmonoxid in der Umgebungsluft sowie von Sauerstoff, Kohlendioxid und Kohlenmonoxid im Inneren misst. Sobald Grenzwerte über- oder unterschritten sind, wird die Besatzung durch visuelle und akustische Signale gewarnt. Die Messwerte sind zudem im vorderen und hinteren Teil deutlich sichtbar (Bild 3). Fest installierte Wärmebildkameras, vorne wie hinten, lösen Handheld-Varianten ab. Drei Bildschirme – zwei in der Kabine, einer in der Kassette – helfen dem Team bei der Orientierung in staubiger oder verrauchter Umgebung sowie bei der Suche nach Vermissten.

Fig. 3. Gas detection system. // Bild 3. Gasüberwachungssystem. Photo/Foto: Dräger

Fig. 3. Gas detection system. // Bild 3. Gasüberwachungssystem. Photo/Foto: Dräger

Ein Tisch, drei Hersteller und eine gemeinsame Idee

Zur Realisierung der Idee mussten die drei beteiligten Unternehmen Goldcorp, Dräger und Paus an einem Tisch zusammenkommen und sich regelmäßig austauschen, damit aus ersten Skizzen detaillierte Baupläne entstanden.

Die eigentlichen Herausforderungen zeigten sich erst in der konkreten Planung und Umsetzung. Auf den ersten Blick ging es darum, eine autarke Rettungskammer auf Rädern zu entwerfen, und sie auf einer bestehenden Karosserie zu befestigen. Im Verlauf der Diskussionen über das genaue Design stieß man immer wieder auf praktische Anforderungen, die Veränderungen verlangten, um einen erfolgreichen Einsatz zu ermöglichen. So entstand das Konzept, nicht nur die Kassette, sondern auch die Fahrerkabine unabhängig mit Atemluft zu versorgen. In praktischen Versuchen stellte sich zudem heraus, dass die Sitze den ergonomischen Bedürfnissen der Retter angepasst werden mussten. Da sie ihr persönliches Kreislaufatemschutzgerät am Mann tragen, haben die Vordersitze des MRV 9000 keine Rückenlehnen. Außerdem musste das Design der Türen modifiziert werden, um dem Grubenwehrtrupp ein ungehindertes Ein- und Aussteigen mit seiner Ausrüstung zu ermöglichen. Auch die Idee, die an Bord mitgeführten Atemluftflaschen mit Hilfe einer hydraulischen Hebevorrichtung einfach und schnell – wie einen Satz Batterien – auszutauschen, entstand im Zuge der Zusammenarbeit.

Fig. 4. The MRV 9000 at Goldcorp in Canada. // Bild 4. MRV 9000 bei Goldcorp in Kanada. Photo/Foto: Dräger

Fig. 4. The MRV 9000 at Goldcorp in Canada. // Bild 4. MRV 9000 bei Goldcorp in Kanada. Photo/Foto: Dräger

Noch im Jahr 2015 wurden die ersten beiden Exemplare des MRV 9000 an Goldcorp geliefert und stehen nun in der Musselwhite und der Porcupine Mine in Timmins bereit (Bild 4). Das erste Feedback von anderen Bergbau-Unternehmen auf das neue Rettungsfahrzeug ist positiv.

Gleichwohl muss sich das MRV 9000 erst noch seinen Platz im Sicherheits- und Rettungskonzept der Bergwerke erobern. Die Bergbauunternehmen haben zur Kenntnis genommen, was da entwickelt wurde und müssen sich jetzt Gedanken darüber machen, ob und wie es in ihr individuelles Sicherheitskonzept passt. Das erfordert Anpassungen bei Dimension und Ausstattung, die sich nach den speziellen Anforderungen eines Bergwerks und den gesetzlichen Bestimmungen eines Landes richten, z. B. was die Motorisierung oder die Größe eines Rettungsteams betrifft. Insofern gibt es kein Grubenrettungsfahrzeug, das sich für alle Bergwerke gleich gut eignet. Aber nun gibt es eine verlässliche Antwort auf die Frage, wie Grubenrettung im 21. Jahrhundert funktionieren kann.

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Steffan Heuer, freier Autor, San Francisco/USA
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