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Zukunft seit 1816: 200 Jahre Technische Fachhochschule Georg Agricola

Die Technische Fachhochschule (TFH) Georg Agricola feiert am 15. April 2016 ihr 200-jähriges Bestehen. An diesem Tag vor genau 200 Jahren begannen die ersten 14 Schüler ihren Unterricht an der Bochumer Bergschule, aus der nach vielen Wandlungen schließlich die TFH hervorging. Sie ist die älteste noch bestehende Ausbildungseinrichtung des Steinkohlenbergbaus an der Ruhr und die Hochschule des Ruhrgebiets mit der längsten Tradition. In ihr Jubiläumsjahr 2016 geht sie mit einem neuen Leitbild unter dem Motto „Zukunft seit 1816“.

Autoren:
Prof. Dr. Jürgen Kretschmann, Präsident, und M. A. Stephan Düppe, Pressesprecher der Technischen Fachhochschule (TFH) Georg Agricola, Bochum

Als die Bergschule im Jahr 1816 gegründet wurde, war Bochum noch eine Ackerbürgerstadt am Vorabend der Industrialisierung. Der technische Fortschritt im aufstrebenden Steinkohlenbergbau und das allmähliche Vordringen in größere Teufen erforderten zunehmend höher qualifizierte Fachkräfte. Ausgehend von Ideen Alexander von Humboldts, die er im Jahr 1793 in der Bergschule im oberfränkischen Steben verwirklicht hatte, zielte der Unterricht in den vom preußischen Staat gegründeten Bergschulen im Ruhrgebiet auf die „wissenschaftliche“ Ausbildung sogenannter „Unter Beamten“. Aus diesen „Unter Beamten“ entwickelte sich schließlich der Beruf des Steigers. Von Anfang an setzte die Bochumer Bergschule auf eine soziale Durchlässigkeit: Neben einigen „Bergbeamten-Söhnen“ bestand die Schülerschaft zum überwiegenden Teil aus „Bergmanns Söhnen“, denen sich die Chance zum Aufstieg durch Bildung bot (Bild 1).

Fig. 1. Historic painting decorating the ceiling at the entrance of TFH Georg Agricola. // Bild 1. Historisches Deckengemälde im Eingang der TFH. Photo/Foto: Wiciok, TFH

Fig. 1. Historic painting decorating the ceiling at the entrance of TFH Georg Agricola. // Bild 1. Historisches Deckengemälde im Eingang der TFH. Photo/Foto: Wiciok, TFH

Die Bergschule war zunächst eine staatliche Einrichtung, der Bergbau aufgrund des Direktionsprinzips weitestgehend unter staatlicher Kontrolle. Die Bergbauunternehmen strebten jedoch zunehmend nach größerer Unabhängigkeit und wollten u. a. auch Ausbildung und Forschung selbst durchführen. Im Zuge der wirtschaftlichen Liberalisierung gründeten die Unternehmen im Jahr 1864 die Westfälische Berggewerkschaftskasse (WBK), die auch die Trägerschaft für die Bochumer Bergschule übernahm. Der Staat behielt sich lediglich ein Aufsichtsrecht vor. Bis heute ist deshalb ein Vertreter der Bezirksregierung Arnsberg Mitglied des Hochschulrats der TFH.

Fig. 2. Mining students and lecturers with Mining College Director Hugo Schultz (sitting, 4th from the left) in 1895. // Bild 2. Bergschüler und Lehrer im Jahr 1895 mit Bergschuldirektor Hugo Schultz (sitzend, 4.v.l.). Photo/Foto: montan.dok

Fig. 2. Mining students and lecturers with Mining College Director Hugo Schultz (sitting, 4th from the left) in 1895. // Bild 2. Bergschüler und Lehrer im Jahr 1895 mit Bergschuldirektor Hugo Schultz (sitzend, 4.v.l.). Photo/Foto: montan.dok

Unter WBK-Geschäftsführer und Bergschuldirektor Hugo Schultz entwickelte sich die Bergschule in den Jahren 1868 bis 1904 zum Zentrum eines umfassenden bergbaulichen Ausbildungssystems, das den Steinkohlenbergbau entscheidend prägen sollte (Bild 2). Schultz führte sogenannte Bergvorschulen ein. An ihnen wurden die elementaren Grundkenntnisse vermittelt, auf denen aufbauend sich die Steigerausbildung an der Bergschule immer weiter vertiefen und ausdifferenzieren konnte. Neben dem Maschinenwesen kamen eine Reihe neuer Fächer hinzu, wie beispielsweise die Geologie, das Markscheidewesen oder das Grubenrettungswesen. Die WBK intensivierte zugleich die Forschung, wovon wiederum die angehenden Steiger profitierten, die von bedeutenden Wissenschaftlern unterrichtet wurden. Hugo Schultz’ Verknüpfung von anwendungsbezogener Forschung und Lehre nahm den Grundgedanken der Fachhochschulen vorweg, die ein Jahrhundert später in Deutschland gegründet werden sollten.

Viele bedeutende Forscherpersönlichkeiten waren in den folgenden Jahrzehnten für die WBK und an der Bergschule tätig: Fritz Muck (1870 bis 1891) begründete die Kohlechemie, Paul Kukuk (1906 bis 1947) leistete Pionierarbeit in der geologischen Erforschung des Ruhrgebiets, Ludger Mintrop revolutionierte im Jahr 1919 die Lagerstättenkunde, die Bergschuldirektoren Fritz Heise und Friedrich Herbst publizierten im Jahr 1908 das Standardwerk „Lehrbuch für Bergbaukunde“, das als „der Heise-Herbst“ Generationen von Wissenschaftlern und Praktikern in ihre Fachdisziplin einführte.

Der erste Weltkrieg und die folgenden politischen Umwälzungen in der Weimarer Republik stellten die Bergschule vor große Herausforderungen. Im Jahr 1925 wurden, wenn auch von der damaligen WBK-Leitung ungewollt, erstmals Gewerkschaftsmitglieder in den Vorstand der Bergschule aufgenommen. Diese Tradition lebt im Hochschulrat der TFH fort, dem neben Vertretern der Bergbauunternehmen – heute der RAG Aktiengesellschaft, Herne – sowie aus Politik, Verwaltung und Wissenschaft auch ein Vorstandsmitglied der Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie (IG BCE) angehört.

Das Verhältnis von Bergschulleitung und WBK zum Nationalsozialismus kann man als freiwillige Gleichschaltung bezeichnen. Gegenüber den unterschiedlichen NS-Organisationen, wie z. B. der Deutschen Arbeitsfront, versuchte man zwar die organisatorische Unabhängigkeit zu verteidigen, ideologisch war die Bergschule aber weitestgehend an das Regime angepasst.

Die britische Besatzungsmacht erkannte nach dem Ende des zweiten Weltkriegs schnell die große Bedeutung der Bochumer Bergschule für den Wiederaufbau des Steinkohlenbergbaus. So konnte die Bergschule bereits im November 1945 wieder eröffnet werden.

Mit dem Wirtschaftsboom in den 1950er Jahren stieg auch die Nachfrage nach Absolventen der Bergschule. Mit dem sogenannten „Neuen Bochumer System“ erleichterte die Bergschule die berufsbegleitende Ausbildung. Hatten die Bergschüler zuvor im Schichtbetrieb vor oder nach dem Unterricht auf den Bergwerken gearbeitet, wechselten sie nun zwischen drei vollen Tagen Unterricht und drei Tagen Arbeit im Betrieb.

Die Kohlekrise Ende der 1950er Jahre wirkte sich naturgemäß auch auf die Entwicklung der Bergschule aus. Während der Personalbedarf des Steinkohlenbergbaus einerseits kontinuierlich abnahm, waren aufgrund der Vollmechanisierung des Abbaus andererseits weiterreichende technische Qualifikationen gefragt. Im Jahr 1963 wurde die Bergschule deshalb in die Ingenieurschule für Bergwesen (IfB) umgewandelt, die schließlich im Jahr 1971 zur Fachhochschule Bergbau wurde (Bild 3).

Fig. 3. The central building of TFH Georg Agricola – University of Applied Sciences in the heart of Bochum. // Bild 3. Das Hauptgebäude der Technischen Fachhochschule Georg Agricola in der Bochumer Innenstadt. Photo/Foto: Düppe, TFH

Fig. 3. The central building of TFH Georg Agricola – University of Applied Sciences in the heart of Bochum. // Bild 3. Das Hauptgebäude der Technischen Fachhochschule Georg Agricola in der Bochumer Innenstadt. Photo/Foto: Düppe, TFH

Die ursprünglichen Kernfächer der Bergschule wurden in den ingenieurwissenschaftlichen Studiengängen der Fachhochschule weitergeführt. Zunehmend entwickelte sie sich jedoch inhaltlich vom Steinkohlenbergbau ausgehend weiter und wandte sich mit Studiengängen wie „Steine und Erden“, „Geotechnik und Angewandte Geologie“ oder „Umwelttechnik“ anderen Rohstoffbranchen und Anwendungsgebieten zu. Im Jahr 1994 führte die Hochschule das berufsbegleitende Studium ein, um – wie schon die Bergschule im Jahr 1816 – Möglichkeiten zur Weiterqualifikation für Berufstätige zu schaffen. Im Jahr 1995 entschied das Rektorat die Umbenennung in „Technische Fachhochschule Georg Agricola für Rohstoff, Energie und Umwelt zu Bochum“. Mit dem Namenspatron Georg Agricola wählte man den Gründervater der Montanwissenschaften zum Vorbild, der zugleich für ein universell ausgerichtetes, ganzheitliches Verständnis von Wissenschaft steht.

Die Bochumer Bergschule und ihre Nachfolgeeinrichtungen haben über zwei Jahrhunderte die Entwicklung des Steinkohlenbergbaus mit geprägt, heute widmet sie sich den Ewigkeitsaufgaben nach dessen Beendigung Ende 2018: Im Jahr 2013 richtete sie den Master-Studiengang Geoingenieurwesen und Nachbergbau ein, im Oktober 2015 eröffnete sie das weltweit einzigartige Forschungszentrum Nachbergbau (Bild 4). Beide werden durch die RAG-Stiftung unterstützt, die eine Stiftungsprofessur Geoingenieurwesen und Nachbergbau an der TFH fördert.

Fig. 4. Opening the Research Institute for Post-Mining in 2015. // Bild 4. Im Jahr 2015 eröffnete die TFH das Forschungszentrum Nachbergbau. Photo/Foto: Wiciok, TFH

Fig. 4. Opening the Research Institute for Post-Mining in 2015. // Bild 4. Im Jahr 2015 eröffnete die TFH das Forschungszentrum Nachbergbau. Photo/Foto: Wiciok, TFH

Ihre wesentlichen Profilmerkmale hat die TFH über 200 Jahre beibehalten und zukunftsorientiert weiterentwickelt. Damals wie heute eröffnet sie immer wieder neuen Generationen die Chance auf einen sozialen Aufstieg und neue Perspektiven. Dies spiegelt eindrucksvoll die Zusammensetzung der heutigen Studierendenschaft: Rund zwei Drittel sind keine Akademikerkinder, der Anteil von Studierenden mit Migrationshintergrund ist überdurchschnittlich hoch.

Die TFH wird heute von der DMT-Gesellschaft für Lehre und Bildung getragen, an der wie schon bei der WBK Unternehmen des Steinkohlenbergbaus beteiligt sind. Auch die öffentliche Hand unterstützt die TFH von Beginn an, heute wird sie vom Land Nordrhein-Westfalen mitfinanziert.

Auf Grund des anhaltenden Ingenieurmangels in Deutschland hat die TFH hervorragende Zukunftschancen. Sie hat deshalb ein Zukunftskonzept erarbeitet, das über das Ende des aktiven deutschen Steinkohlenbergbaus hinaus Perspektiven aufzeigt. In dem Konzept sind wesentliche Kernkompetenzen und Entwicklungslinien in Forschung, Lehre und Hochschulorganisation, ein neues Leitbild und strategische Ziele für die kommenden Jahre sowie Maßnahmen für deren Umsetzung formuliert.

Aus Anlass des Jubiläums eröffnet die TFH Georg Agricola am 15. April 2016 in ihrem Hauptgebäude eine historische Ausstellung und gibt die Hochschulchronik „1816-2016“ heraus. Zum Familientag am 16. April 2016 sind Gäste herzlich willkommen, mit den Hochschulangehörigen und Ehemaligen zu feiern. Mehr Infos unter www.tfh-bochum.de/200

Autoren:
Prof. Dr. Jürgen Kretschmann, Präsident, und M. A. Stephan Düppe, Pressesprecher der Technischen Fachhochschule (TFH) Georg Agricola, Bochum
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