Home » Pole-Position mit der VISION ZERO

Pole-Position mit der VISION ZERO

Vier Jahre VISION ZERO bei der BG RCI – ein Jahr VISION ZERO im internationalen Kontext. Das war Grund genug, den Leiter der Prävention bei der Berufsgenossenschaft Rohstoffe und chemische Industrie (BG RCI) in Langenhagen, Helmut Ehnes, im Herbst 2018 zu bitten, im persönlichen Gespräch mit der Redaktion des Magazins Steine und Erden eine erste Zwischenbilanz zu ziehen. Der Erst­abdruck des Interviews erfolgte in der Sonderausgabe Nr. 11/2018 der Zeitschrift Steine und Erden. Vorangestellt sei aber zuvor ein kurzer Überblick über den Stand der VISION ZERO-Kampagne auf internationaler Ebene.

Autor: Dipl.-Ing. Helmut Ehnes, Leiter Prävention, Berufsgenossenschaft Rohstoffe und chemische Industrie, Langenhagen

Fig. 1. VISION ZERO supporters. // Bild 1. Unterstützer der VISION ZERO. Source/Quelle: ISSA

VISION ZERO hat jetzt 4.007 Unterstützer aus 141 Ländern (Bilder 1, 2). Seit seiner Einführung am 4. September 2017 anlässlich des 21. Weltkongresses für Sicherheit und Gesundheit am Arbeitsplatz ist ein enormes Wachstum und ein großer Erfolg der Kampagne zu verzeichnen.

Fig. 2. VISION ZERO launches. // Bild 2. VISION ZERO-Einführungen. Source/Quelle: ISSA

Mit 1.905 Partnern, Unternehmen und Ausbildern ist Europa die größte und am schnellsten wachsende VISION ZERO-Region. Es gibt Unterstützer von VISION ZERO aus über 40 europäischen Ländern, und Russland hat die meisten Unterstützer aller Länder.

Eine hohe Aktivität gab es in Afrika. Nach dem Start an der Elfenbeinküste im April 2018 erfolgte die Einführung in Nigeria, Ghana und Sambia. Die Elfenbeinküste und Sambia sind mit 446 Unterstützern besonders aktiv. Die Elfenbeinküste hat ein besonders großes Interesse an Ausbildern.

In den letzten Monaten ist auch das Interesse der lateinamerikanischen Länder gestiegen. Der Start in Lateinamerika fand im September 2018 statt und seit Dezember gab es jeden Monat 30 bis 40 neue Teilnehmer an der VISIO ZERO-Kampagne.

VISION ZERO begann in Asien mit dem globalen Start in Singapur, gefolgt von der regionalen Einführung in Thailand. Die Region Asien und Pazifik ist heute mit 821 Partnern, Unternehmen und Ausbildern die zweitgrößte VISION ZERO-Region.

Die nächste Einführung von VISION ZERO erfolgte in Zentralafrika, sie fand vom 11. bis 12. April 2019 in Gabun statt, und das erste VISION ZERO-Gipfeltreffen wird im Oktober 2019 in Finnland stattfinden.

Fig. 3. Helmut Ehnes, Head of Prevention at BG RCI. // Bild 3. Helmut Ehnes, Leiter der Prävention bei der BG RCI. Photo/Foto: BG RCI

Interview mit Helmut Ehnes.

Steine und Erden: Herr Ehnes, wie kam es eigentlich zu VISION ZERO?

Helmut Ehnes (Bild 3): Wir machen das, weil wir noch immer die Situation beklagen, dass jemand früh zur Arbeit geht und abends nicht zu seiner Familie zurückkehrt, weil er tödlich verunglückt ist. Wir machen das, weil jeder Zwanzigste unserer Versicherten jedes Jahr einen Arbeits- oder einen Wegeunfall erleidet. Und wir machen das, weil das alles nicht nur viel Leid bedeutet, sondern auch viel Geld kostet. Im Falle der BG RCI müssen für die Folgen von Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten jedes Jahr ungefähr 1 Mrd. € durch die Unternehmen aufgebracht werden. Diese Diskussion hat die Selbstverwaltung unserer BG RCI in den Jahren 2013 und 2014 geführt und 2014 VISION ZERO als Präventionsstrategie für die BG RCI beschlossen. Damit wird zum Ausdruck gebracht, dass wir uns nicht mit der oben beschriebenen Situation abfinden wollen, sondern davon überzeugt sind, dass jeder Arbeitsunfall und jede beruflich bedingte Erkrankung verhindert werden könnte, wenn zum richtigen Zeitpunkt die richtige präventive Maßnahme getroffen worden wäre. Damit wird eine grundsätzliche Haltung, eine Einstellung zum Ausdruck gebracht, zu der es bei näherer Betrachtung gar keine Alternative gibt. Denn wer wollte schon offen bekennen, dass die unternehmerischen Planzahlen tödliche Arbeitsunfälle, Verletzungen oder Gesundheitsschäden einkalkulieren und akzeptieren?

Steine und Erden: Ist VISION ZERO auf Deutschland und dieBG RCI beschränkt?

Ehnes: Nein, nicht mehr. Das, was wir bei der BG RCI ins Leben gerufen haben, hat über die Internationale Vereinigung für Soziale Sicherheit (IVSS) inzwischen weltweit Aufmerksamkeit erzielt. Das gipfelte mit dem weltweiten Auftakt für die globale VISION ZERO-Strategie beim Weltkongress für Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit 2017 in Singapur. Vor über 4.000 begeisterten Zuhörern wurde die internationale Kampagne durch die IVSS gestartet und die sieben Erfolgsfaktoren, die bei der BG RCI entwickelt wurden, strahlten als 7 Golden Rules für VISION ZERO in Englisch von der Leinwand. Inzwischen ist der BG RCI-VISION ZERO-Leitfaden in zehn Sprachen übersetzt, fast 3.000 namhafte Unternehmen und Organisationen haben sich der Initiative angeschlossen und täglich werden es mehr. In allen Kontinenten wird die VISION ZERO-Idee begeistert aufgenommen – die Leute sind richtig begeistert. Weil der Ansatz so plausibel und so simpel ist und weil VISION ZERO die Leute auch emotional anspricht. Hinzu kommt, dass VISION ZERO kompatibel ist mit nationalen Gesetzen und Verordnungen. Inzwischen gibt es neben den Leitfäden und der VISION ZERO-Website www.visionzero.global auch ein VISION ZERO-Trainings-curriculum, das den Partnern zur Verfügung gestellt wird. Die IVSS startet im Januar 2019 das erste Training für Multiplikatoren – das Interesse ist groß.

Steine und Erden: Manchmal hört man, VISION ZERO sei noch ein weiteres neues Managementsystem. Was sagen Sie dazu?

Ehnes: Ein scheinbares Gegenargument, das ist mir auch schon begegnet. Es lässt sich leicht widerlegen. Während Managementsysteme für den Arbeitsschutz auf traditionelles Risikomanagement setzen, um die gesetzlichen Anforderungen zu erfüllen, erfordert VISION ZERO aktive Führungsarbeit und strebt auf Basis einer klaren Haltung ein Niveau an, welches die gesetzlichen Anforderungen weit übertrifft. Arbeitsschutz wird zur Herzensangelegenheit und macht alle Menschen im Betrieb zu Beteiligten. Das Ziel von VISION ZERO ist eine Kulturveränderung hin zu einer Präventionskultur, bei der Sicherheit und Gesundheit als Unternehmenswert gesehen werden. Während bei klassischen Managementsystemen Regelungen, Vorschriften und Dokumentation einen hohen Stellenwert einnehmen und sich nur Experten und Führungskräfte zuständig fühlen, erfasst VISION ZERO möglichst alle und die gesamte Belegschaft wird ermutigt, Ideen einzubringen und sich an Lösungen zu beteiligen. Vorkommnisse werden nicht länger als Fehler gesehen, sondern als Chance zum Lernen. VISION ZERO erfordert eine völlig andere Führungs- und Kommunikationskultur und setzt auf gegenseitiges Vertrauen.

Steine und Erden: Gibt es erste Ergebnisse?Wie wirkt VISION ZERO?

Ehnes: Natürlich ist es eine komplexe Angelegenheit, den Erfolg oder Misserfolg von Prävention zu ermitteln. Wenn Sie mich fragen, wie VISION ZERO in den Mitgliedsunternehmen der BG RCI wirkt, dann denke ich als erstes an viele Gespräche, Rückmeldungen und positive Zustimmung, die es von allen Personengruppen zu VISION ZERO gibt. Zuletzt hat sich das einmal mehr vor wenigen Tagen beim VISION ZERO Forum protecT in Bamberg gezeigt (Bild 4), das mit 300 Teilnehmern erneut ausgebucht war.

Fig. 4. Forum protecT, organised by BG RCI – an extremely popular biannual event for business owners that focuses on a range of prevention issues – has been integrated into the VISION ZERO communication portfolio. // Bild 4. Das Forum protecT der BG RCI – eine äußerst beliebte, alljährliche Doppelveranstaltung für Unternehmer zu verschiedenen Präventionsthemen – wurde in das VISION ZERO-Kommunikationsportfolio integriert. Photo/Foto: BG RCI

Positive Rückmeldungen gab es dabei von Vertretern der Großchemie genauso wie von einem Unternehmer eines mittelgroßen Betriebes, der die VISION ZERO-Leitfäden als „wahren Segen“ bezeichnet hat. Ich denke auch an die große Zustimmung zu den sieben Erfolgsfaktoren und den dazugehörigen Leitfäden. Und an die Rückmeldungen aus unseren Kundenbefragungen, die wir im Rahmen der Präventionsstrategie eingeführt haben. Aber all das sind natürlich keine harten, belastbaren Fakten. Letztlich müssen wir uns an der Entwicklung der Unfallzahlen und der Berufskrankheiten messen lassen. Genau deshalb haben wir ja auch sieben konkrete Ziele für den ersten Zehnjahreszeitraum beschlossen, um diese Indikatoren zu beobachten. Sicher sind´vier Jahre noch zu wenig, um abschließende Schlussfolgerungen zu ziehen, denn zunächst haben wir ja unsere Energien auf die Analyse der Zahlen konzentriert und die Entwicklung passender Präventionstools und Botschaften. Trotzdem beobachten wir natürlich schon jetzt die Entwicklung der wesentlichen Kennzahlen. Mein Zwischenfazit: Es gibt Anlass zur Hoffnung. Beispielsweise liegen wir bei den neuen Unfallrenten, für die wir uns ja vorgenommen hatten, die Zahl in zehn Jahren mindestens zu halbieren, gut auf Kurs (Bild 5). Entsprechende Auswertungen haben wir natürlich für alle relevanten Kennzahlen.

Fig. 5. Since 2015, the number of pension cases has been declining significantly. If this continues, BG RCI will have achieved its aim of halving this figure in 2024. // Bild 5. Seit 2015 ist ein deutlicher Abwärtstrend in den Rentenfällen zu verzeichnen. Sollte er anhalten, hätte die BG RCI im Jahr 2024 ihr Ziel, die Halbierung, erreicht. Source/Quelle: BG RCI

Steine und Erden: Wenn Sie gefragt werden, was denn nun den Kern der VISION ZERO Strategie ausmacht, was antworten Sie?

Ehnes: Da möchte ich festhalten, dass wir bei der Entwicklung einer neuen kompakten Art von Werkzeugen zur Umsetzung der sieben Erfolgsfaktoren sehr gut vorangekommen sind. Der -VISION ZERO-Leitfaden als zentrales Einstiegsinstrument kommt bestens an, bietet vielfältige Verwendungsmöglichkeiten und wird sogar weltweit eingesetzt. Die sieben Vertiefungsleitfäden folgen dem gleichen Gestaltungsmuster und wurden beim allerersten Praxistest im Rahmen des Forum protecT sehr gut bewertet.

Steine und Erden: Stimmt, das war das Urteil vieler Teilnehmer beim Praxistest der neuen Vertiefungsleitfäden …

Ehnes: Und es gibt ja noch mehr. Unsere Lebensretter werden von einigen Betrieben eins zu eins für ihr eigenes Intranet übernommen – sie sind beliebt wegen ihrer plakativen Botschaften. Bewährte Präventionsprodukte, wie z. B. der Förderpreis, der AZUBI-Wettbewerb oder auch das Gütesiegel, haben ihren festen Platz in der VISION ZERO-Strategie gefunden und sind gut integriert. Und unsere neuen VISION ZERO-Seminarangebote für Führungskräfte erfreuen sich bereits bester Beliebtheit. Alles in allem hat VISION ZERO dazu beigetragen, unseren vielfältigen Präventionsprodukten eine klare Struktur zu geben – wir sind inhaltlich inzwischen sehr gut aufgestellt.

Fig. 6. The selection assistant can be found at https://awa.bgrci.de/ and makes it easier to search for suitable VISION ZERO media and practical aids. // Bild 6. Der Auswahlassistent, zu finden auf der Webpage https://awa.bgrci.de/, vereinfacht die Suche nach passenden Medien und Praxishilfen der VISION ZERO. Source/Quelle: BG RCI

Steine und Erden: Und wie sorgen Sie dafür, dass das alles von den Unternehmen genutzt wird und zum Einsatz kommt?

Fig. 7. The “Der Rote Faden” brochure, available in German from the BG RCI online media shop, explains what media to use and when is best to use it in order to implement VISION ZERO in a business. // Bild 7. „Der Rote Faden“, erhältlich im Online-Medienshop der BG RCI, erläutert, wann idealerweise welche Medien eingesetzt werden können, um die VISION ZERO im Unternehmen zu implementieren. Source/Quelle: BG RCI

Ehnes: Berechtigte Frage, denn die besten Produkte sind schließlich wertlos, wenn sie keiner kennt. Und genau deshalb haben wir das letzte Jahr auch genutzt, um uns verstärkt um die VISION ZERO-Kommunikation und den Wissenstransfer zu kümmern. Neu ist unser VISION ZERO-Auswahlassistent (AWA), der hilft, schnell die passenden Vertiefungsprodukte zu finden. Der AWA ist quasi eine intelligente Suchmaschine, um schneller ans Ziel zu kommen (Bild 6).

Neu ist auch unsere VISION ZERO-Website www.null-ist-das-ziel.de, die konzentriert alle VISION ZERO-Produkte zur Verfügung stellt und über die seit dem 1. November 2018 auch die sieben Vertiefungsleitfäden online erhältlich sind. Der VISION ZERO-Newsletter wäre ebenso zu nennen wie die Broschüre „Der Rote Faden“ (Bild 7).

Und schließlich muss man hier auch die VISION ZERO-Kooperationsvereinbarungen nennen, die ja gleichfalls dem Transfer dienen. Mit 20 Verbänden sind derartige Vereinbarungen bereits abgeschlossen. Bei einem ersten Treffen mit den Verbandsvertretern zeigten sich diese beeindruckt von dem mittlerweile vorhandenen kompakten Angebot und sagten zu, sich nunmehr stärker um den Transfer über ihre Kanäle zu den Unternehmen zu kümmern. Alles in allem bin ich davon überzeugt, dass wir auch beim Transfer und bei der Kommunikation sehr gute Fortschritte gemacht haben.

Steine und Erden: Gibt es ein besonders markantes Beispiel, wie VISION ZERO von den Unternehmen aufgegriffen wird?

Ehnes: Da fällt mir aktuell die Firma Dräger in Lübeck ein, die zwar nicht Mitglied der BG RCI ist, aber ein wichtiger Zulieferer für Sicherheitstechnik für viele unserer Branchen. Bei Dräger hat man das Potential von VISION ZERO erkannt. Das zeigt sich z. B. darin, dass man Aussagen zu VISION ZERO bei Dräger im Nachhaltigkeitsbericht des Unternehmens findet, einschließlich des VISION ZERO-Logos. Ich meine: Zur Nachahmung empfohlen. Ein klares Statement von Stefan Dräger gibt die Richtung vor und schließlich hat Dräger sogar eigene VISION ZERO-Videos produziert, die die gemeinsame Haltung von Dräger und der Dräger-Kunden auf den Punkt bringen.

Steine und Erden: Wie soll es weitergehen? Was sind die nächsten Schritte und wie fällt Ihr Fazit aus?

Ehnes: An sich, denke ich, wir müssen jetzt nicht krampfhaft Schlag auf Schlag weitere neue Produkte auf den Markt werfen – da sind wir, wie ich schon sagte, bereits gut aufgestellt. Zwei aktuelle Vorhaben will ich aber gerne ankündigen: Unter dem Arbeitstitel „Unfälle kommunizieren“ wollen wir eine App entwickeln, mit der wir markante Unfallereignisse mit Präventionspotential schnell und zielgerichtet kommunizieren können, um betroffene Unternehmen über solche Ereignisse zu informieren und um zu verhindern, dass derselbe Unfall an anderen Orten nochmal passiert. In einem internationalen Verbundprojekt wollen wir außerdem passende Indikatoren entwickeln, mit deren Hilfe man die Ausprägung von VISION ZERO und der dazugehörigen Präventionskultur erfassen, messen und vergleichen kann. Ein spannendes Projekt, an dem viele Unternehmen Interesse signalisiert haben, weil sie selbst auf der Suche nach neuen Steuerungsindikatoren sind. Unternehmen, die hier bereits mehr als nur retrospektive Unfallzahlen in ihr internes Reporting aufgenommen haben, werden gebeten, uns ihre Überlegungen zur Verfügung zu stellen, damit Vorarbeiten berücksichtigt werden können.

Autor: Dipl.-Ing. Helmut Ehnes, Leiter Prävention, Berufsgenossenschaft Rohstoffe und chemische Industrie, Langenhagen
Online_Abonnement