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Potential von Modelica für die Erstellung digitaler Zwillinge

Die Digitalisierung ist in allen Bereichen der Gesellschaft auf dem Weg der schnellen Entwicklung. Infolgedessen steigen die Anforderungen an die Modellierung von Systemen. Dies gilt in Bezug auf Quantität und Qualität. In diesem Zusammenhang müssen die Werkzeuge zur Modellierung ausgewählt werden. Hierfür ist die Sprache „Modelica“ eine mögliche Wahl. Diese Sprache bietet verschiedene Vorteile, die den sicheren Gebrauch und die effektive Wiederverwendung bereits entwickelter Komponenten unterstützen. Insbesondere ist Modelica ein effizienter Ansatz zur Modellierung von Wechselwirkungen zwischen Objekten, die praktisch in jedem System auftreten, z. B. auch in den für den Maschinenbau typischen technischen Systemen. Der Text enthält mögliche Blickwinkel auf den Begriff „digitaler Zwilling“, der anscheinend nicht genau definiert ist. Es geht weiter mit Modelica, seinen Eigenschaften und Vorteilen für die Erstellung digitaler Zwillinge. Zusammenfassend gibt der Text einige Hilfestellungen, um sich mit Modelica vertraut zu machen, Modelica zu bewerten und über die Verwendung von Modelica zu entscheiden.

Author/Autor: Prof. Dr.-Ing. Prof. h.c. Stefan Vöth, Leitung Zentrum für Antriebs- und Hebetechnik, Technische Hochschule Georg Agricola (THGA), Bochum

Digitaler Zwilling

Die Überschrift nennt zwei Schlüsselwörter, die verstanden werden müssen: „Modelica“ und „digitaler Zwilling“. Ein digitaler Zwilling ist die Darstellung eines Objekts oder eines Systems von Objekten in der digitalen Sphäre. Sicher kann die Frage gestellt werden, ob diese Beschreibung ausreichend ist (Bild 1), allerdings stellt sie zumindest eine Mindestanforderung dar.

Fig. 1. Properties of a system in general. // Bild 1. Eigenschaften eines Systems im Allgemeinen.
Source/Quelle: THGA

Das Objekt kann materiell oder nicht materiell sein. Es kann Produkte, Produktionssysteme oder Dienstleistungen darstellen. Eine solche Darstellung repräsentiert nicht „alle“ Eigenschaften dieses Objekts, sondern eine Auswahl von Eigenschaften. Somit kann eine unendliche Menge von Darstellungen eines digitalen Zwillings existieren. Die Wahl der geeigneten Darstellung ist eine Hauptaufgabe bei der Arbeit an digitalen Zwillingen.

Ein digitaler Zwilling kann für verschiedene Aufgaben entlang des Lebenszyklus eines Produkts verwendet werden, von der Planung bis zum Recycling. Der digitale Zwilling kann unabhängig von der Frage aufgebaut werden, ob das Objekt bereits existiert oder bisher nur geplant ist. Die Geschichte hat zuerst digitale Zwillinge für nicht vorhandene Objekte erfunden, um die frühen Phasen des Lebenszyklus zu bewältigen. Heutzutage steigt die Motivation, auch digitale Zwillinge für die späteren Phasen des Lebenszyklus bereitzustellen.

Denkbare Anwendungsbereiche sind:

  • Das Produkt kann in der virtuellen Sphäre entwickelt werden. Dort können auch Produktionsprozesse getestet und optimiert werden.
  • Das Produkt kann ohne Herstellung eines echten Prototyps getestet werden.
  • Das Personal kann am Arbeitsplatz geschult werden, ohne dass bereits eine Ausrüstung vorhanden ist.
  • Änderungen von Produkten und Prozessen können im digitalen Bereich vorbereitet werden.

Insbesondere Tests im digitalen Bereich bieten zahlreiche Vorteile. Es können theoretische und potentiell gefährliche Situationen analysiert werden. Tests, die möglicherweise Zeit, Geld oder Platz kosten oder gar nicht ausgeführt werden können, rücken in den Fokus der Verfügbarkeit. In der virtuellen Welt wird wahrscheinlich eine größere Anzahl von Tests ausgeführt als in der realen Welt. Diese Tests in verschiedenen Projektphasen mit Modellen unterschiedlicher Detaillierung der Beschreibung können zu einem vertieften theoretischen Verständnis führen.

Vorbereitungen im virtuellen Bereich bieten das Potential fehlerfreier Prozesse, einschließlich Zeit- und Geldersparnis. Ein Schwerpunkt kann hier die kostspielige Inbetriebnahme sein, z. B. im Anlagenbau, aber auch das Risiko falscher Prognosen aufgrund unzureichender Systembeschreibungen.

Der digitale Zwilling besteht aus Eigenschaften und Verhalten. Eigenschaften werden durch Daten, Verhalten wird durch Algorithmen und/oder Gleichungen dargestellt. Algorithmen und Gleichungen sind mit kausaler und akausaler Modellierung verbunden.

Der digitale Zwilling kann mit der Außenwelt gekoppelt sein. Über Eingangskanäle und Ausgangskanäle können Daten gewonnen oder vom digitalen Zwilling geliefert werden. Ein spezieller Kanal sind Internetverbindungen, die einen Datenaustausch über weite Entfernungen ermöglichen. Dies ist eine Eigenschaft, die Systemen eine zustandsabhängige flexible Steuerung ermöglicht, u. a. „Industrie 4.0“ genannt.

Während der gesamten Lebensdauer des Produkts könnte die Idee eines digitalen Zwillings darin bestehen, einen durchgehenden digitalen Roten Faden zu erstellen. Auf Basis von Betriebsdaten sammelt der digitale Zwilling Daten. Die Daten können analysiert werden, z. B. um Optimierungen durchzuführen, oder um die Nutzung des Produkts zu verbessern. In der Planungsphase ergibt sich so die Möglichkeit einer verbesserten Optimierung auf Basis von realen Betriebsdaten. Ein etwas höherer Optimierungsgrad führt zu einer Änderung der Beschreibungen der Eigenschaften und des Verhaltens des Systems selbst. In diesem Fall entwickelt sich der digitale Zwilling eher dynamisch als statisch. Der nun weiter entwickelte digitale Zwilling bietet eine dramatisch verbesserte Grundlage für die zukünftige Planung.

Darüber hinaus können die Daten im Hinblick auf das zukünftige Verhalten des Systems analysiert werden. Dies gibt die Chance, prädiktive Wartungsansätze zu verbessern.

Dies bietet eine ganzheitliche Sicht auf den gesamten Lebenszyklus. Ein vollständiger Datenaustausch zwischen allen Zyklusphasen würde eine Vielzahl neuer Optionen unterstützen. Diese Idee wirft einige neue nichttechnische Fragen zur Lieferanten-Kunden-Beziehung, zum unternehmensübergreifenden Datenaustausch, zur nationalen und internationalen Gesetzgebung und zur Datensicherheit auf.

Modelica

Die Überschrift nennt neben dem digitalen Zwilling als zweites Schlüsselwort noch „Modelica“. Modelica ist eine Programmiersprache, die besonders für die Modellierung mathematischer Modelle geeignet ist. Sie kann (nahezu) für jede Art von mathematischem Modell verwendet werden. Viele Anwendungen berücksichtigen technische Aspekte, Modelica ist jedoch nicht darauf beschränkt. Auch die Modellierung von Sozial- oder Finanzsystemen ist z. B. möglich. Tatsächlich verfügt Modelica über uneingeschränkte Modellierungsfunktionen für mehrere Domänen.

Verschiedene Domänen können leicht gekoppelt werden. Unter Verwendung der Steuerungstechnikdomäne, der elektrischen und der mechanischen Domäne kann beispielsweise ein elektromechanischer Antriebsstrang modelliert werden. Zu einer Domäne gehörende Objekte werden normalerweise in Toolboxen gesammelt. Verschiedene Toolboxen sind verfügbar, plattformintegriert, plattformunabhängig, kostenlos und kommerziell.

Eine zentrale Eigenschaft von Modelica ist die Verwendung von Gleichungen. Gleichungen deuten auf eine kausale Modellierung mit flexibler Datenflussrichtung hin (Bild 1). Dies ist von Bedeutung, da viele Systeme einen bidirektionalen Informationsfluss aufweisen, der leicht durch Gleichungen modelliert werden kann. Zuweisungen, die einen unidirektionalen Informationsfluss modellieren (kausale Modellierung), werden ebenfalls von Modelica unterstützt, z. B. in algorithmischen Abschnitten. Kausale und akausale Ansätze können in einem Modell nebeneinander verwendet werden. Dies ermöglicht eine stabile Objektdarstellung.

Modelica ist eine objektorientierte Sprache. Dies unterstützt die Strukturierung von Systemen und Objekten sowie die Wiederverwendung von Objekten. Dieser Aspekt stärkt die verfügbaren Toolboxen.

Der Fokus von Modelica liegt auf der Modellierung. Plattformen unterstützen die automatische Übertragung des Modells in ein mathematisches Modell und schließlich in ein ausführbares Programm. Grundsätzlich fällt keine umfangreiche Auseinandersetzung mit differential-algebraischen Gleichungen, Gleichungsumwandlungen, numerischen Lösern, Codegenerierung und Nachbearbeitung an. Die Idee ist, die Möglichkeit zu geben, sich auf die ingenieurtechnischen Aufgaben zu konzentrieren und nicht etwa auf die Programmieraufgaben, um die Produktivität des Modellierungsprozesses zu steigern.

Eine weitere Eigenschaft von Modelica ist die Zuordnung von Einheiten zu Variablen. Dies ermöglicht den automatischen Test der Einheitenintegrität des Modells.

Fig. 2. Objects, interfaces and connections as elements of a model for the ventialtion of an underground mine. // Bild 2. Objekte, Schnittstellen und Verbindungen als Elemente eines Modells für die Bewetterung eines Untertagebergwerks. Source/Quelle: THGA

Da Modelica objektorientiert ist, wird empfohlen, ein System in Komponenten zu zerlegen und diese als Softwareobjekte zu beschreiben. Die Zerlegung sollte von einer hohen Komplexität auf oberster Ebene zu einer niedrigen Komplexität auf der geeigneten niedrigen Ebene durchgeführt werden. Die Anzahl der Ebenen hängt vom Systemcharakter ab. Dieser Ansatz wird besonders empfohlen, wenn vorhandene Modellklassen verwendet werden. Wenn überhaupt keine (passenden) Modellklassen verfügbar sind, ist ein Bottom-Up-Ansatz möglicherweise besser geeignet. Möglicherweise können vorhandene Modellklassen angewendet werden, möglicherweise müssen neue Modellklassen entwickelt werden. Die Verbindung von Objekten untereinander wird durch Konnektorklassen realisiert. Diese definieren die Daten, die über die Schnittstelle zwischen den Objekten ausgetauscht werden. Konnektorklassen sind Mitglieder von Objektklassen. Konnektoren mit kompatibler Datenschnittstelle können miteinander verbunden werden (Bild 2).

Sowohl Open-Source-Tools als auch kommerzielle Tools für die Arbeit mit Modelica sind verfügbar.

Anwendungen

An der Technischen Hochschule Georg Agricola (THGA), Bochum, werden mit Modelica digitale Zwillinge aufgebaut.

Erste Anwendung ist die Modellierung des Verhaltens von Hubsystemen mit hoher Hubgeschwindigkeit. Die Modelle dienen zur Planung der Parametrisierung von Hebezeugen, um die Belastung von Antriebsstrangkomponenten zu optimieren.

Die zweite Anwendung ist die Modellierung von Bewetterungssystemen in Bergwerken. Ziel dieser Anwendung ist die energieeffiziente Regelung der Luftmassenströme.

Schlussfolgerungen

Es gibt verschiedene Sprachen für die Modellierung von Objekten in der digitalen Sphäre. Eine Option ist Modelica, die mehrere Vorteile bietet:

  • Multidomänenmodellierung. Keine Einschränkungen bei der Definition neuer Domains.
  • Modellstrukturierung und Modellwiederverwendung werden durch Objektorientierung unterstützt.
  • Unterstützung von Kausalmodellierung und Akausalmodellierung.
  • Unterstützung von Einheiten zur Beschreibung von Parametern und Variablen.
  • Konzentration auf Modellierung statt Codierung.
  • Textuelle und visuelle Tools für die Programmierung auf Plattformen.
  • Verschiedene Ressourcen verfügbar, kostenlos und kommerziell.

References/Quellenverzeichnis

References/Quellenverzeichnis

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Author/Autor: Prof. Dr.-Ing. Prof. h.c. Stefan Vöth, Leitung Zentrum für Antriebs- und Hebetechnik, Technische Hochschule Georg Agricola (THGA), Bochum

 

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