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Kohleausstieg aussetzen – Bestandsanlagen im Betrieb halten und verfügbare Kapazitäten reaktivieren, der Transition mehr Zeit geben

Ohne die Zielrichtung der Energiewende in Deutschland oder gar den Anspruch der Nachhaltigkeit grundsätzlich in Frage zu stellen, sprechen in Anbetracht der 2022 eingetretenen Veränderungen der energiepolitischen Rahmenbedingungen stichhaltige Argumente dafür, den in Deutschland beschlossenen Kohleausstieg auszusetzen. Nach Gesetzeslage sollte er bis „spätestens 2038“, gemäß dem Koalitionsvertrag der Ampel-Regierung „idealerweise schon bis 2030“ erfolgen. Doch nach der „Zeitenwende“ auch für die deutsche Energiepolitik und dem akuten Gasnotstand wird der bisher vorgesehene Ausstiegspfad für die Kohle bereits ansatzweise revidiert. Da jedoch Erdgas als Brücke ins regenerative Energiezeitalter dauerhaft nicht mehr belastbar ist, sollte der Plan zum Kohleausstieg vorerst ausgesetzt und modifiziert werden. Die völlige Stilllegung der Kohle ist erst dann zu verantworten, wenn wirklich belastbare Alternativen existieren. Die von den Klimaaktivisten beschworenen Nachteile für den Klimaschutz wären relativ gering, die energie-, rohstoff- und auch regionalökonomischen Vorteile dagegen groß.

Author/Autor: Prof. Dr. rer. oec. Kai van de Loo, Forschungszentrum Nachbergbau (FZN), TH Georg Agricola (THGA), Bochum

Kohlepolitische Beschlusslage

Die Energiewende in Deutschland verfolgt ein mehr als großes Ziel: die Transformation hin zur Klimaneutralität der gesamten deutschen Wirtschaft und Gesellschaft bis 2045. Gleichzeitig wird an dem schon 2011 nach dem Fukushima-Ereignis beschlossenen Ausstieg aus der Nutzung der Kernkraft in Deutschland festgehalten, wozu bis Ende 2022 schrittweise alle deutschen Kernkraftwerke abgeschaltet werden sollten – dies ist planmäßig umgesetzt worden, so dass 2022 nur noch drei letzte von vormals siebzehn deutschen Kernkraftwerken in Betrieb gewesen sind. Die Energieversorgung in Deutschland soll demzufolge komplett umgestellt werden hin zu regenerativen Energien und auf Ökostrom basierendem grünen Wasserstoff, weg von nuklearen und fossilen Brennstoffen. Letzteres bedeutet auch den Ausstieg aus der Nutzung von Mineralöl und Erdgas. Doch ein spezifischer Plan ist nur für die Rückführung und Beendigung der Kohleverstromung bis spätestens 2038 festgelegt worden. Einen solchen Plan sah bereits die Koalitionsvereinbarung der damaligen schwarz-roten Bundesregierung von 2017 vor, zu dessen Ausarbeitung im Juni 2018 die Kommission „Wachstum, Strukturwandel und Beschäftigung“ (KWSB), beauftragt wurde. Die Beendigung der Kohleverstromung bedeutet zugleich – das war durch die enge wirtschaftliche Verflechtung von Braunkohlentagebauen und -kraftwerken klar – den Auslauf des heimischen Braunkohlenbergbaus. Der Auslauf des deutsche Steinkohlenbergbaus war zu diesem Zeitpunkt bereits fast abgeschlossen, denn er wurde Ende 2018 gemäß den kohlepolitischen Vereinbarungen von 2007 bzw. 2011 (Streichung der sogenannten Revisionsklausel) zur sozialverträglichen Beendigung der Steinkohlesubventionierung bis zum Jahr 2018 mit der Stilllegung der letzten beiden Steinkohlenbergwerke Prosper-Haniel im Ruhrrevier und Ibbenbüren in diesem Jahr endgültig beendet.

Die Kohlekommission sollte einen möglichst breiten gesellschaftlichen Konsens über die sachgemäße Gestaltung des energie- und klimapolitisch begründeten Ausstiegspfads aus der Kohleverstromung in Deutschland und des damit verbundenen Strukturwandels in den Kohleregionen herstellen. Sie war zusammengesetzt aus unterschiedlichen Akteuren aus Politik, Wirtschaft, Gewerkschaften und Umweltverbänden sowie der betroffenen Regionen und Bundesländer. Die Kohleindustrie selbst war übrigens nicht beteiligt, sie wurde lediglich angehört. Am 31. Januar 2019 beendete die Kohlekommission ihre Arbeit und legte ihren Abschlussbericht vor. Sie empfahl die stufenweise Beendigung der Kohleverstromung bis spätestens 2038, ggf. auch schon 2035, unter bestimmten energie-, regional- und sozialpolitischen Rahmenbedingungen – dazu zählten Perspektiven für eine weiterhin sichere und bezahlbare Stromversorgung auf der Basis des beschleunigten Ausbaus von Windkraft und Photovoltaik (PV) bei gleichzeitigem Zubau von hocheffizienten Gaskraftwerken und den Umstieg von Kohle auf Gas bei KWK-Anlagen und Fernwärmesystemen durch einen „Investitionsrahmen Gas“ sowie für dadurch steigende Strompreise Kompensationen für die privaten wie kommerziellen Stromverbraucher, wozu entsprechende Programme aufgelegt werden müssten. Ferner gab die Kohlekommission u. a. diverse Empfehlungen, wie parallel dazu der wirtschaftliche Strukturwandel in den betroffenen Regionen erfolgreich bewältigt werden kann.

Die damalige Bundesregierung hat die Empfehlungen der Kohlekommission einschließlich des Auslaufdatums weitgehend übernommen, ausgearbeitet und auf deren Grundlage mehrere Gesetzespakete beschlossen. Am 3. Juli 2020 wurde das Kohleausstiegsgesetz (Gesetz zur Reduzierung und Beendigung der Kohleverstromung und zur Änderung weiterer Gesetze) parlamentarisch verabschiedet. Am 14. August 2020 folgte die Verabschiedung des Strukturstärkungsgesetzes Kohleregionen mit dem Investitionsgesetz Kohleregionen als „Stammgesetz“, das bis 2038 eine spezifische Strukturförderung der Kohleregionen durch hauptsächlich öffentliche Investitionen des Bundes und der Länder, d. h. zugleich keine Beihilfen zu privaten Investitionen, im Umfang von insgesamt 40 Mrd. € für die deutschen Braunkohlen-regionen sowie von etwas mehr als 1 Mrd. € für strukturschwache Standortkommunen von Steinkohlenkraftwerken vorsieht, darunter für fünf Kommunen im Ruhrgebiet und zwei im Saarland, also in Regionen des stillgelegten Steinkohlenbergbaus, für die aber sonst keine besondere Strukturförderung mehr gewährt wird. Hinzu kommen je nach Erfüllung der Anspruchsvoraussetzungen weitere Fördermaßnahmen im Rahmen der allgemeinen Regionalförderung der Bund-Länder-Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur“ (GRW) sowie aus den Strukturfonds der EU einschließlich des für die „Coal Transition“ in den Mitgliedstaaten aufgelegten Just Transition Mechanism. Bis Ende 2021 sind auf dieser Basis bereits Projekte im Gesamtumfang von gut 19 Mrd. € in den Kohleregionen auf den Weg gebracht worden. Vorausgesetzt wird dabei die Umsetzung des vom Kohleausstiegsgesetz verlangten energiewirtschaftlichen Anpassungspfads, welche neben einem Neubauverbot für Kohlekraftwerksanlagen die Rückführung der inländischen Kohlestromkapazitäten von 42,5 GW im Jahr 2017 in einem ersten Schritt auf 30 GW bis Ende 2022 vorsieht, was bis dato geschehen ist. Danach sollen diese Kohlekapazitäten in einem zweiten Schritt bis 2030 auf insgesamt 17 GW (9 GW Braunkohle und 8 GW Steinkohle) verringert werden, bevor sie daraufhin bis 2038 oder gemäß der in der zweiten Phase im Jahr 2026 dazu vorgesehen Prüfung schon bis 2035 auf Null reduziert werden sollen und die Kohleverstromung in Deutschland somit vollständig beendet werden soll.

In Bezug auf die Stilllegung der Braunkohlenkraftwerke und -tagebaue ist dafür zusätzlich zu den gesetzlichen Regelungen ein öffentlich-rechtlicher Vertrag abgeschlossen worden, der einen anlagenscharfen Zeitplan für die jeweiligen Stilllegungstermine sowie davon abhängige Entschädigungszahlungen an die Kraftwerksbetreiber und weitere begleitende Maßnahmen zur Umsetzung unter Einschluss der Rekultivierung festlegt. Danach erfolgen die ersten Stilllegungen von drei Braunkohlenkraftwerksblöcken bis 2022 ausschließlich im Rheinischen Revier. Zwischen 2025 und 2029 sind fünf weitere Stilllegungsmaßnahmen im Rheinischen Revier sowie sechs Stilllegungen im Lausitzer Revier vorgesehen worden. Anschließend soll 2034/2035 das Mitteldeutsche Revier mit seinen vier Anlagen komplett geschlossen werden, bevor zum Schluss 2038 – oder ggf. bereits 2035 – die restlichen drei Anlagen im Rheinischen und vier Anlagen im Lausitzer Revier und zwingend mit ihnen der verbliebene heimische Braunkohlenbergbau stillgelegt werden.

Für die Steinkohlenkraftwerke ist dagegen ein zwecks möglichst plankonformer Stilllegung degressiv angelegtes Ausschreibungsverfahren für Stilllegungsprämien beginnend ab 2020 festgelegt worden. Ab 2028 sollen Stilllegungen der verbliebenen deutschen Steinkohlenkraftwerke sodann per ordnungsrechtlicher Verfügungen ohne Entschädigungen erfolgen und planmäßig die inländische Steinkohlenverstromung weiter reduziert und bis 2035 ganz beendet werden (Bild 1).

Fig. 1. Legally scheduled exit path for coal-fired power generation. // Bild 1. Gesetzlich vorgesehener Ausstiegpfad für die Kohleverstromung. Source/Quelle: BMUV

Begleitend zu diesen staatlich veranlassten Stilllegungsprozessen hat sich der Bund zur Gewährung eines Anpassungsgelds zur Finanzierung von Vorruhestandsregelungen für ältere Arbeitnehmer der Kohleindustrie verpflichtet, wie es sich bei der sozialverträglichen Anpassung des Steinkohlenbergbaus bewährt hatte und das so nunmehr auch auf Beschäftigte des Braunkohlenbergbaus und ebenso der Braun- und Steinkohlenkraftwerke ausgedehnt wird. Zur klimapolitischen Flankierung enthält das Kohleausstiegsgesetz eine Regelung, die es rechtlich ermöglicht, die mit Stilllegungen freiwerdenden CO2-Zertifikate zu löschen, um kontraproduktive Wirkungen im EU-Emissionshandelssystem zu vermeiden. (1)

Die neu gewählte Bundesregierung der „Ampelkoalition“ hält in ihrem Ende November 2021 abgeschlossenen Koalitionsvertrag „Mehr Fortschritt wagen“ zur Einhaltung der nationalen Klimaschutzziele und der angestrebten Verschärfung des EU-Emissionshandels einen „beschleunigten Ausstieg aus der Kohleverstromung (für) nötig. Idealerweise gelingt das schon bis 2030“. Der gesetzlich erst im Jahr zuvor festgelegte Ausstiegstermin für die Kohleverstromung müsste demnach um fünf bis acht Jahre vorgezogen werden. Die struktur- und sozialpolitische Unterstützung der betroffenen Regionen sowie der vom Kohleabbau Betroffenen soll dabei jedoch unverändert bleiben, diesbezügliche Maßnahmen würden lediglich vorgezogen, wo nötig angepasst und ergänzt. „Niemand wird ins Bergfreie fallen“, bekräftigt der Koalitionsvertrag. Geprüft werden soll zudem „die Errichtung einer Stiftung oder Gesellschaft, die den Rückbau der Kohleverstromung und die Renaturierung organisiert.“ Der beschleunigte Ausstieg aus der Kohleverstromung verlange indes, so die Ampelregierung Ende 2021, einen beschleunigten „massiven Ausbau der erneuerbaren Energien und die Errichtung moderner Gaskraftwerke, um den im Lauf der nächsten Jahre steigenden Strom- und Energiebedarf zu wettbewerbsfähigen Preisen zu decken. Dafür soll, heißt es im Koalitionsvertrag, der für das Jahr 2026 im Kohleausstiegsgesetz vorgesehene Überprüfungsschritt bis spätestens Ende 2022 analog zum Gesetz vorgezogen werden. Die „bis zur Versorgungssicherheit durch Erneuerbare Energien notwendigen Gaskraftwerke“ sollen zur Nutzung der vorhandenen (Netz-)Infrastrukturen und zur Sicherung von (regionalen) Zukunftsperspektiven auch an bisherigen Kraftwerksstandorten gebaut werden. Sie müssten so gebaut werden, dass sie auf klimaneutrale Gase (H2-ready) umgestellt werden können. „Die Versorgungssicherheit und den schnellen Ausbau der Erneuerbaren werden wir regelmäßig überprüfen. Dazu werden wir das Monitoring der Versorgungssicherheit mit Strom und Wärme zu einem echten Stresstest weiterentwickeln.“ (2) Dem Koalitionsvertrag zufolge sollen Kohlekraftwerke also wo möglich an den bestehenden Standorten auf Gas umgestellt werden, zugleich die statt der Kohleverstromung eingesetzten Gaskraftwerke und ihre Infrastruktur auf eine künftige Wasserstoffbewirtschaftung vorbereitet werden. Außerdem werden der Prozess des Kohleausstiegs und sein Tempo unter die Bedingung der Stromversorgungssicherheit gestellt, deren Monitoring künftig auch einen „echten Stresstest“, also die Frage der Gewährleistung auch unter sehr ungünstigen Bedingungen, beinhalten soll.

Nach §55 des Gesetzes zur Reduzierung und Beendigung der Kohleverstromung (KVBG) muss die Bundesnetzagentur ab 2021 jährlich regelmäßig überwachen und ermitteln, „ob die Sicherheit und Zuverlässigkeit des Elektrizitätsversorgungssystems durch die Maßnahmen dieses Gesetzes mit hinreichender Wahrscheinlichkeit nicht unerheblich gefährdet oder gestört ist. Dabei berücksichtigt sie insbesondere, inwieweit die Steinkohlenanlagen den Betreibern der Übertragungsnetze außerhalb des Marktes im Rahmen der Netzreserve weiterhin für einen sicheren und zuverlässigen Netzbetrieb zur Verfügung stehen können.“ Für 2021 wurde eine solche Gefährdung verneint, sofern die übrigen Rahmenbedingungen sich nicht ändern.

Nach § 54 Abs. 1 KVBG hat die Bundesregierung jeweils zum 15. August der Jahre 2022, 2026, 2029 und 2032 „auf wissenschaftlicher Grundlage einschließlich festgelegter Kriterien und dazugehöriger Indikatoren die Auswirkungen der Reduzierung und Beendigung der Kohleverstromung (zu überprüfen)“, und zwar explizit die Auswirkungen auf

  • die (Strom-) Versorgungssicherheit,
  • die Anzahl und die Leistung der von Kohle auf Gas umgerüsteten Anlagen,
  • die Aufrechterhaltung der Wärmeversorgung,
  • die Strompreise,
  • die Erreichung des jeweiligen Zielniveaus des Gesetzes,
  • den Beitrag zur Erreichung der damit verbundenen nationalen Klimaschutzziele,
  • Rohstoffe insbesondere Gips, die im Zuge der Kohleverstromung gewonnen werden und,
  • im Jahr 2022, ebenso auf die Sozialverträglichkeit des eingeleiteten Kohleausstiegs.

Neben weiteren Überprüfungen der Bundesregierung selbst muss nach § 54 Abs. 4 KVBG die Bundesnetzagentur für die Überprüfung der Bundesregierung ab 2022 zudem „ermitteln, ob die vorhandenen Gasversorgungsnetze ausreichend sind, um Stein- und Braunkohlenanlagen eine Umrüstung auf den Energieträger Gas zu ermöglichen“.

Nach § 56 KVBG soll die Bundesregierung im Rahmen der regelmäßigen umfassenden Überprüfungen in den Jahren 2026, 2029 und 2032 dann zugleich überprüfen, ob die Reduzierung und Beendigung der Kohleverstromung nach dem Jahr 2030 jeweils drei Jahre vorgezogen und damit das Abschlussdatum 31. Dezember 2035 erreicht werden kann.

Anhand der letztgenannten Vorschrift wird deutlich, dass die im Koalitionsvertrag genannte neue Zielsetzung, den Kohleausstieg auf 2030 vorzuziehen, eine Änderung des KVBG und eine vorzeitige Entscheidung und Festlegung über das vorgezogene Ausstiegsdatum verlangen würde. Hier wird im Folgenden ebenfalls für eine Änderung des KVBG plädiert. Allerdings in die entgegengesetzte Richtung: Die Reduzierung und Beendigung der Kohleverstromung sollte vorerst ausgesetzt werden und zwar möglichst bald. Dafür gibt es stichhaltige Gründe, denn die im KVBG genannten Kriterien sprechen im Licht der Entwicklungen des Jahres 2022 vorläufig nicht mehr für einen vertretbaren Kohleausstieg.

Die Bundesregierung hat unterdessen den gesetzlichen Endtermin für den ersten Prüfbericht zum 15. August 2022 verstreichen lassen. (3) Dieser soll dem Vernehmen nach eventuell zum Jahresende nachgeholt werden. Offizielle Gründe sind dafür nicht angegeben worden. Klar ist jedoch, dass sich die Annahmen und Voraussetzungen des Kohleausstiegs mittlerweile fundamental verändert haben. Die Leitidee des Kohleausstiegsgesetzes, Kohle durch Erdgas als Backup für die erneuerbaren Energien in der Stromerzeugung zu ersetzen, funktioniert nicht mehr.

Zeitenwende der deutschen Energiepolitik – Gasbrücke nicht mehr belastbar

Vor der 2020 einsetzenden Corona-Pandemie waren die Weltmarktpreise für fossile Energieträger auf einem relativ niedrigen Niveau, das globale Angebot übertraf die Nachfrage und die internationalen Märkte für Kohle oder Gas erschienen als Käufermärkte. Die seit der Weltklima-Konferenz von Paris 2015 manifeste Perspektive einer weitweiten Dekarbonisierung und speziell in der EU der 2019 beschlossene „Green Deal“ mit dem Ziel der Klimaneutralität bis 2050 versprachen zudem die langfristige Abkehr von fossilen Energien, zu allererst von der Kohle, bei Hinwendung zur Stromerzeugung aus erneuerbaren Energien in Verbindung mit einer sektorübergreifenden Elektrifizierung. Dadurch sollte zugleich eine Stärkung der Energieversorgungssicherheit durch sukzessive Verringerung der Abhängigkeit von Energieimporten aus politisch unsicheren Lieferländern wie Russland oder den OPEC-Staaten erreicht werden. Allerdings wurde schon dabei häufig und gerade in der deutschen Energiedebatte übersehen, dass dies zu neuen Abhängigkeiten von bisher nicht-energetischen kritischen Rohstoffen, wie z. B. Lithium, Nickel, Kobalt oder Seltenen Erden, führt, ohne welche die grüne Energiewende nicht zu realisieren ist und bei denen die Konzentration von Rohstoffvorkommen und -produktion auf wenige und/oder politisch unzuverlässige Länder teilweise noch stärker ist als bei Mineralöl, Erdgas, Stein- oder gar Braunkohle. Hinzu kommen die Risiken und Verwundbarkeiten der kritischen Energieinfrastrukturen wie Gaspipelines oder Stromleitungen nicht nur durch politische oder technische Faktoren, sondern z. B. auch gegenüber Terrorismus oder Cyber-Attacken. (4)

Mit dem Ausbruch der Pandemie bzw. den zu ihrer Bekämpfung ergriffenen teils drastischen Maßnahmen brachen Wirtschaft und Handel weltweit ein und gingen Energienachfrage und -preise nahezu weltweit zurück. Das bedingte einen in Deutschland zunächst kaum wahrgenommenen beträchtlichen Rückbau oder Stilllegungen der globalen Förderkapazitäten und der Investitionen im Bereich der fossilen Energien, so z. B. auch eine Konsolidierung der Schieferöl- und -gasproduktion in den USA oder auch der Tankerkapazitäten für den Schiffstransport von Öl und Flüssiggas. Mit der dann stärker als erwartet anziehenden wirtschaftlichen Wiederbelebung in Asien schon Ende 2020 und bis Frühjahr 2021 im Rest der Welt stieg die Energienachfrage einschließlich der Nachfrage nach Gas- und LNG-Importen sehr stark an und übertraf das verfügbare Angebot, was zu einer ersten Verknappung und Preisexplosion speziell im Gassektor führte. In der EU waren die Gaspreise im September 2021 um bis zu 600 % höher als ein Jahr zuvor. „Insoweit und bis dahin war die europäische Gaskrise zunächst primär eine Folge des Ungleichgewichts zwischen der höheren globalen Nachfrage und dem weltweiten Angebot“, was allerdings in Deutschland außerhalb von Expertenkreisen noch ebenso wenig Beachtung fand wie die manipulative Rolle Russlands bei der Gasversorgung Europas u. a. durch die geringe Befüllung der teils direkt von Gazprom betriebenen Gasspeicher in der EU, so auch hierzulande. (5)

Einen Beitrag zum Anstieg der Gaspreise wie auch der Kohle- und der ebenfalls schon 2021 stark gestiegenen Strompreise leistete die kräftige Aufwärtstendenz der CO2-Preise im EU-Emissionsrechtehandel von rd. 30 €/t zu Jahresbeginn bis zeitweise an die 100 €/t gegen Jahresende, wofür die neuen Regelungen der 2021 begonnenen vierten Phase des EU-ETS sowie die sich abzeichnenden weiteren Verschärfungen des „Fit for 55“-Pakts der EU, mit dem eine EU-weite Minderung des CO2-Ausstoßes um 55 % bis 2030 erreicht werden soll, ausschlaggebend gewesen sind. Im EU-ETS, das bis 2020 eine Gesamtreduktion von mehr als 40 % gegenüber 2005 erreicht hat, wird die jährliche Reduktionsrate weiter verschärft. Auch das soll den Wechsel von Kohle auf Gas im Übergang zu einem dekarbonisierten Energiesystem begünstigen, forciert aber vorerst den Anstieg der Strom- und Energiepreise.

Infolge der militärischen Invasion Russlands in die Ukraine am 24. Februar 2022 ist, wie kurz darauf Bundeskanzler Scholz mit breiter Zustimmung im Deutschen Bundestag erklärt hat, eine „Zeitenwende“ in der deutschen Sicherheitspolitik eingetreten. Die schließt die Fragen der Energie- und speziell der Gasversorgungssicherheit mit ein. Bis 2021 war Deutschland in seiner Primärenergieversorgung zu insgesamt gut einem Viertel von Russland abhängig geworden, bei Erdgas gar zu 55 % und mit der fast fertigen Nord Stream 2-Pipeline sollten die Bezüge aus Russland sogar noch ausgeweitet werden. Ein Klumpen-risiko, das dem lange bewährten Grundsatz eines ausgewogenen, breit diversifizierten Energiemix widersprach und auf das Sicherheitsexperten sowie EU-Partner, die USA und die Ukraine schon länger warnend hingewiesen hatten. (6) Mit der Entscheidung des Kreml zum Einmarsch in die Ukraine und dem seitherigen Krieg sowie den darauf verhängten harten Sanktionen der USA und der NATO-Länder, darunter die Einstellung des Nord Stream 2-Projekts, müssen sich vor allem die EU und Deutschland neben einer dramatischen Verschlechterung der politischen und wirtschaftlichen Beziehungen zu Russland auf bisher beispiellose Kürzungen und Unterbrechungen der russischen Gaslieferungen einstellen, auch auf das Szenario eines vollständigen Lieferstopps. Alternative Importoptionen, die statt russischem Pipeline-Gas hauptsächlich LNG-Transporte, also Flüssiggas, aus anderen Erdteilen bedeuten, konnten unter den angespannten globalen Gasmarktbedingungen bisher nur in relativ geringem Umfang erschlossen werden. Daher war und ist mit anhaltenden Engpässen und einer weiteren Gaspreisexplosion zu rechnen (7), die in Deutschland im Jahr 2022 durch den Merit-Order-Effekt am Strommarkt ebenso explodierende Strompreise – Ende August 2022 erreichte z. B.  der Preis an der EEX (Phelix baseload) mit 988 €/MWh mehr als das 10-fache gegenüber dem Tageswert im Vorjahr (85 €/MWh) (8) – und eine tiefe Energiekrise sowie eine Debatte über Strommarktreformen ausgelöst haben (Bilder 2, 3).

Fig. 2. Wholesale prices for natural gas 2021/2022. // Bild 2. Großhandelspreise Erdgas 2021/2022. Source/Quelle: BDEW/AGEB 8/2022

Fig. 3. Development of electric power prices 2021/2022. // Bild 3. Strompreisentwicklung 2021/2022. Source/Quelle:EEX, entso-E

Die gestiegenen Energiepreise gelten zugleich als Haupttreiber der gesamtwirtschaftlichen Inflation, deren Rate ein Niveau ähnlich wie nach der ersten Weltölpreiskrise in den 1970er Jahren und einen Rekordwert für das wiedervereinigte Deutschland erreicht hat. Dadurch sind zugleich schwerwiegende Kaufkraftverluste der Konsumenten ausgelöst worden und rezessive Impulse nicht nur, aber insbesondere für die gesamte energieintensive Wirtschaft bedingt, von Chemie, Stahl, Metallen, Baustoffen, Zement, Glas und Papier über z. B. die Düngemittelherstellung oder die Autozulieferindustrie bis hin zum Bäckerhandwerk und weiterer Lebensmittelproduktion.

Die Bundesregierung hat auf die Energiekrise bislang mit zahlreichen Maßnahmen reagiert. Von intensiven handelspolitischen Bemühungen um Lieferverträge für LNG, Finanzhilfen und beschleunigte Genehmigungen für Flüssiggasterminals in Deutschland und internationalen Solidaritätsabkommen über die Erhöhung der nationalen Gasspeichervorgaben und eine Verstaatlichung der Gasspeichergesellschaften, den Notfallplan Gas und verschiedene dementsprechende Anpassungen des Energiesicherungsgesetzes bis hin zu Hilfsprogrammen für Energieverbraucher, die Stützung krisengeschädigter Gashandelsunternehmen und der als Ausgleich dazu gedachten Mehrwertsteuerabsenkung für private Gaskunden. Hinzu gekommen sind Energieeinsparverordnungen und -appelle – „weniger Duschen“, Absenkung privater Heiztemperaturen, 20 % geringerer Gasverbrauch etc. Zugleich sind ein Beschleunigungspaket für den weiteren Ausbau und die „Vorfahrt“ von Windkraft- und Solarstromanlagen in Deutschland auf den Weg gebracht worden.

Parallel dazu ist von der Bundesregierung auch das Ersatzkraftwerke-Bereithaltungsgesetz vorgelegt und Mitte Juli 2022 parlamentarisch verabschiedet worden, praktisch eine „Gas-Ersatzreserve“ für den Strommarkt. Danach sollen zur Verringerung der Gasverstromung und Abwehr von Engpässen Öl- und Steinkohlenkraftwerke im Umfang von 5,9 GW (davon 4,3 GW Steinkohle) aus der sogenannten Netzreserve der Übertragungsnetzbetreiber vorübergehend und unter bestimmten Bedingungen, u. a. zur Kohlebevorratung, bis zum Frühjahr 2023 „in den Markt zurückkehren können“. Gleiches gilt ab Oktober 2022 und mit Laufzeit bis zum 1. März 2024 für 1,3 GW Kapazität an Braunkohlenkraftwerken in der „Sicherheitsbereitschaft“ und weitere Steinkohlenkraftwerke, die noch 2022 und 2023 nach den Plänen für den Kohleausstieg außer Betrieb gesetzt werden sollten. (9) Diese Aktivierungen sind indes freiwillig, sollen nicht in einen Dauerbetrieb münden und liefen zögerlich an.

Ob alle diese Maßnahmen ausreichen, eine Gasversorgungsnotlage im Winter 2022/2023 abzuwehren, eine länger anhaltende Gas- und Stromversorgungskrise zu vermeiden und die extrem gestiegenen Strom- und Energiepreise spürbar zu dämpfen, bleibt abzuwarten. Es kann jedoch stark bezweifelt werden. Abgesehen von den exorbitanten Belastungen und Versorgungsrisiken für die privaten Verbraucher steckt vor allem die deutsche Industrie in einer „Energiepreisfalle“ (Handelsblatt). Die hohen Gas- und Strompreise bedeuten faktisch gravierende Wettbewerbsnachteile für Unternehmen am Standort Deutschland und leisten einer Deindustrialisierung Vorschub, die bei der energieintensiven Industrie schon länger im Gange ist, sich nun aber verstärkt und merklich ausweitet. Deutschland hatte bereits vor der gegenwärtigen Energiekrise die höchsten Industriestrompreise unter den Industrieländern, die Stromsteuer noch nicht einmal eingerechnet. Die Gaspreise in der EU waren Mitte 2022 mit knapp 111 €/-MWh – im Jahresverlauf gab es auch schon Ausschläge auf deutlich über 300 €/MWh – doppelt so hoch wie in Japan (umgerechnet 55 €/MWh) und mehr als viermal so hoch wie in den USA (rd. 25 €/MWh). Dieser eklatante Abstand wird sich selbst bei einer derzeit nicht absehbaren Entspannung am Gasmarkt aufgrund der hohen Lieferkosten für LNG nicht ausgleichen lassen. Das allerdings gefährdet auf Dauer die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands als Industriestandort – mit allen damit zusammenhängenden ökonomischen und sozialen Konsequenzen. (10)

Erdgas als Brücke ins erneuerbare Energiezeitalter ist nach der Zeitenwende nicht mehr belastbar. Die Bundesregierung hat selbst erklärt, dass auf Gasimporte, ebenso wie andere Energieimporte, für Kohle war das schon ab Juli 2022 beschlossen, aus Russland so bald wie möglich ganz verzichtet werden soll – sofern Russland den Gashahn nicht schon von sich aus zudreht, was im Fall von Nord Stream 1 geschehen ist – und es mehrere Jahre dauern dürfte, die ausgefallenen russischen Gaslieferungen durch andere Gasimporte vom Weltmarkt zu ersetzen, geschweige denn den Umfang der Gasimporte zu erhöhen. Dabei sind in diesen rein mengenmäßigen Betrachtungen die Preisrelationen noch unberücksichtigt. Dennoch sind bisher grundlegendere Korrekturen an dem in Deutschland seit Jahren eingeschlagenen und von der Ampel-Koalition ambitioniert verschärften Kurs der Energiewende nicht vorgesehen. Besonders naheliegend wäre angesichts der akuten Erdgaskrise ja ein Wiederhochfahren der ohnehin immer geringer gewordenen und sonst in wenigen Jahren ganz erschöpften heimischen Erdgasförderung, für die große Vorräte im tiefen norddeutschen Schiefergestein durch Fracking-Verfahren erschlossen werden könnten, womit Importe von gefracktem Gas etwa aus Nordamerika ersetzt werden könnten. Die heimische Gasförderung betrug 2021 nur noch 50,5 Mrd. KWh; das waren ganze 5 % des inländischen Verbrauchs, 95 % mussten eingeführt werden, wobei Deutschland zusätzlich noch mehr als 60 % für (Durch-)Handel und Ausfuhr importiert hat. Die konventionellen heimischen Erdgasvorkommen werden von der Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe (BGR) auf 22 Mrd. m3 veranschlagt, was gerade mal noch fünf Jahre Förderung auf dem aktuellen Niveau erlauben würde. Indes werden unkonventionelle Gasvorkommen wie vor allem Kohleflözgas und Schiefergas, das durch Fracking erschlossen werden könnte, auf 1.360 Mrd. m3 geschätzt. (11)

Was speziell die Kernkraft betrifft, wurde 2022 ein „Streckbetrieb“ diskutiert der letzten drei deutschen Kernkraftwerke, die eigentlich Ende des Jahres endgültig stillgelegt werden sollten. Keine Verständigung gab es in der Ampel-Koalition jedoch über längerfristige Laufzeitverlängerungen oder gar den Bau neuer oder zumindest die Prüfung neuartiger Reaktorkonzepte. Nicht einmal die FuE-Aktivitäten auf diesem Gebiet sollen in Deutschland fortgesetzt werden.

Schließt man diese Optionen jedoch definitiv aus, bleibt angesichts der absehbaren längerfristigen Gasknappheit, den dadurch weiter hohen Gaspreisen und den mit dem Gasimport verbundenen energiepolitischen Risiken und Problemen nur die Option Kohle als Rückgrat der deutschen Energiewende, jedenfalls in einer zeitlich längeren Dauer als es bisherige politische Beschlüsse und Absichtserklärungen vermitteln und Klimaaktivisten in sehr einseitigen Betrachtungsweisen fordern. Das würde zugleich den absehbar schwierigen Strukturwandel in den Kohleregionen erleichtern. Erforderlich wären dafür allerdings erhebliche Modifikationen des Kohleausstiegsgesetzes, die der Kohleverstromung und heimischen Kohlegewinnung solange rechts- und planungssichere Perspektiven geben, bis Alternativen dazu nicht nur als politisches Wunschdenken, sondern als real belastbare technisch-ökonomische Kapazitäten existieren. Für das Aussetzen des Kohleausstiegs lassen sich zahlreiche stichhaltige Argumente anführen, wie nachfolgend gezeigt wird. Bliebe es beim Kohleausstieg, gar in vorgezogener Form, ließe sich Deutschland auf ein „energie- und regionalwirtschaftliches Abenteuer“ ein, wie der Autor in einem früheren Beitrag ausgeführt hat und dessen Gefahren mit der Zeitenwende schneller eingetreten sind als gedacht. (12)

Sicherung der Strom- und Wärmeversorgung durch Kohle

Die Energiewende in Deutschland ist im Wesentlichen und in der bisherigen Praxis als Stromwende konzipiert. Deren hauptsächlichen Bausteine sind der weitgehend vollzogene bzw. geplante Ausstieg aus Atom- und Kohlestrom, der erst teilweise erfolgte und künftig kräftig zu beschleunigende Ausbau der regenerativen Stromerzeugung vor allem auf Basis von Windkraft und PV sowie die angestrebte Substitution von Mineralöl und Erdgas in den übrigen Sektoren durch Elektrifizierung und Einsatz von Wasserstoff auf Basis von Ökostrom. Dazu muss allerdings die Stromerzeugung insgesamt gewaltig gesteigert werden, denn über alle derzeitigen Verwendungen von Strom hinaus einschließlich des wachsenden Gesamtkomplexes moderner Informationstechnologien (Digitalisierung) wird Strom künftig auch gebraucht für die E-Mobilität, für immer mehr elektrische Heizeinrichtungen in Form von Wärmepumpen und Power-to-Heat-Anlagen sowie enorme Kapazitäten für die Wasserstoffelektrolyse und die als Power-to-Gas und Power-to-Liquids bezeichneten Verfahren. Für die Zunahme von Stromverbrauch und dafür benötigter Strom-erzeugung gibt es verschiedene Szenarienstudien mit unterschiedlichen Annahmen. Auf einer besonders breiten, Expertise der wirtschaftlichen Praxis einbindenden Basis steht die im Oktober 2021 vorgelegte Studie „Klimapfade 2.0“ der Boston Consulting Group (BCG) im Auftrag und in Zusammenarbeit mit dem Bundesverband der deutschen Industrie (BDI), die ein Programm für eine klimaneutrale Wirtschaft im Jahr 2045 komplett durchgerechnet hat (Bild 4).

Fig. 4. Power generation capacities in GW until 2030 and 2045 according to the climate pathways 2.0 study (BCG/BDI). // Bild 4. Stromerzeugungskapazitäten in GW bis 2030 und 2045 gemäß Klimapfade 2.0-Studie (BCG/BDI). Source/Quelle: BCG, BDI

Diese Studie erwartet, dass sich der Stromverbrauch in Deutschland bis 2045 gegenüber 2019 nahezu verdoppeln würde. Die Stromerzeugungskapazitäten, d. h. die installierte Leistung, müsste dazu beinahe verdreifacht werden von 225 GW auf 621 GW (+ 276 %). Unterstellt wird dafür neben einer Vermehrfachung der Wind- und Solarstromkapazitäten (Verdopplung schon bis 2030) auch eine Steigerung der Gasstromkapazitäten von 31 GW auf 74 GW im Jahr 2030 – Kohlestrom könnte dadurch bereits 2030 vollständig ersetzt werden – und auf 88 GW im Jahr 2045, wobei nach 2030 ein zunehmender Ersatz durch Biogas und die Re-Methanisierung von grünem Wasserstoff unterstellt wird. (13)

Bis 2030 müssten demnach nicht über 150 GW an regenerativer Kapazität zugebaut werden, sondern auch 43 GW an Gaskapazitäten – dies entspricht dem (parallelen) Zubau von 80 bis 100 neuen Gaskraftwerken, ein Zubauprogramm, das es in dieser kurzen Zeit in diesem Umfang auch im konventionellen Bereich in Deutschland noch nie gegeben hat und das angesichts bisher üblicher Planungs-, Projektierungs- und Bauzeiten unrealistisch erscheint, ganz zu schweigen von der Frage, ob es genügend spezialisierte und unter den obwaltenden politischen und ökonomischen Bedingungen investitionsbereite Unternehmen dafür gibt. Selbst wenn der Ausbau von Windkraft und PV einschließlich der nötigen Netze in diesem exorbitanten Ausmaß in den nächsten Jahren möglich würde, erscheint der Zubau von zusätzlich 43 GW auf Gasbasis aufgrund der jüngsten Entwicklungen im Gassektor praktisch nicht mehr möglich, schon die Versorgung der bestehenden Gaskapazitäten dürfte in den kommenden Jahren eine große Herausforderung sein. Gleichzeitig stellt sich die Frage, warum dann die 2019 noch 40 GW umfassenden, z. T. noch verfügbaren Kohlekraftwerkskapazitäten bis 2030 vollständig aus dem Markt genommen werden sollen. Hier wird dafür plädiert, die bis 2022 erreichte Kohlekapazität von rd. 30 GW vorerst zu belassen, zuletzt stillgelegte Kapazitäten soweit wie möglich zu reaktivieren, den Kohleausstieg insoweit vorerst auszusetzen und die ursprünglich geplante Gasreserve für die Stromerzeugung durch einen Kohle-/Gas-Mix zu ersetzen (Bild 4). Aus Gründen der mangelhaften Synchronisierbarkeit und Planungssicherheit nicht realistisch erscheint die Überlegung, für jedes nicht rechtzeitig fertiggestellte Gaskraftwerk ein Kohlekraftwerk weniger abzustellen. Die Entscheidung zum Aussetzen des Kohleausstiegs muss möglichst bald erfolgen, um hinreichend wirksam zu werden und die Stromversorgung absehbar sicherzustellen.

Das knapp gewordene importierte Erdgas sollte künftig vorrangig für die Sicherstellung der Wärmeversorgung reserviert und in der Stromerzeugung künftig vor allem auf den Einsatz in hocheffizienten GuD-Anlagen beschränkt werden, die über Kraft-Wärme-Kopplung zugleich einen Beitrag zur Wärmeversorgung, insbesondere in Fernwärmenetzen leisten. Das betrifft immerhin etwa zwei Drittel der Gaskapazitäten in der Stromerzeugung. Wo die Kohle bisher auch Fernwärme erzeugt, wäre von der weiteren Substitution durch Gas Abstand zu nehmen ebenso wie vom Wechsel zu reinen Gasturbinen, deren Energieträgerversorgung nicht mehr sicherzustellen ist.

Im Gegensatz zu früheren Jahren spricht neben der Frage der Versorgungssicherheit auch rein wirtschaftlich mittlerweile nichts mehr für einen Switch von Kohle zu Gas. Denn selbst unter Einpreisung der CO2-Kosten ist in der EU schon überwiegend seit 2021 und durchgängig und ausgeprägt ab 2022 ein erheblicher kostenmäßiger Vorteil von Kohlestrom gegenüber Erdgasstrom festzustellen, in den Fachkreisen als „Clean-Dark-Spread“ bekannt. Dass Kohle gemessen an den Importpreisen der Energieträger ohne CO2-Zuschlag in Deutschland seit je und seit 2021 mit zunehmender Tendenz wesentlich preisgünstiger ist auch als russisches Pipeline-Erdgas, ist schon lange bekannt, siehe die Preisentwicklung von Importsteinkohle zu Importöl und Importgas in t SKE im Vergleich (Bild 5). Trotz ebenfalls stark angestiegener Preise für Steinkohle ist 2022 die preisliche Differenz zum teuren Importgas noch gewachsen.

Fig. 5. Price development of selected imported energy sources. // Bild 5. Preisentwicklung ausgewählter Importenergieträger. Source/Quelle: Statistik der Kohlenwirtschaft, BAFA (bis 2018), VDKI (ab 2019), Stat. Bundesamt; Stand: Juli 2022

Klar ist, dass die wetterabhängigen, volatilen und fluktuierenden regenerativen Energien Windkraft und PV ein konventionelles Backup, eine Ausgleichs- und Reservekapazität brauchen, weil die Last sonst nicht wie notwendig permanent, d. h. alle 24 h an allen sieben Tagen der Woche gedeckt werden kann. Das gilt insbesondere in Phasen, in denen es starke Angebotsstörungen gibt oder gleichzeitig über längere Zeit kaum Wind weht und Sonne scheint (Dunkelflauten) und sich die Stromversorgung sonst nicht sicher gewährleisten lässt, solange es keine großtechnischen Langzeitstromspeicher gibt. Diese gibt es trotz intensiver FuE-Anstrengungen bisher bei weitem nicht, Dunkelflauten von mehr als zwei Tagen demgegenüber im Schnitt zweimal im Jahr und in der Spitze bis zu zwei Wochen, wind- und solarstromschwache Zeiten ohnehin ständig (bei der PV jede Nacht). Die in Deutschland verfügbaren Pumpspeicherkraftwerkskapazitäten sind dafür viel zu gering, Elektrobatterien bieten auf absehbare Zeit aus Mengen- und Kostengründen nur Lösungen für sogenannte Regelleistungen sowie für Reserven im Minutenbereich. (14) Wasserstoff könnte die Lösung für das Langfristspeicherproblem sein, ist aber selbst noch kein Stromspeicher, sondern kann nur als speicherbarer Rohstoff zur Re-Methanisierung dienen, was wiederum zusätzlichen Strombedarf und eine geringe Energie-effizienz bedeutet. Zwar werden auf die Wasserstoffschiene wegen des theoretisch beträchtlichen Speicherpotentials und der engen Verbindung zur Gastechnologie große energiepolitische Hoffnungen gesetzt, doch noch gibt es nur geringe Kapazitäten. Auch hier müsste ein Ausbau in großem Stil erfolgen, dem aber neben anderen praktischen Hindernissen und nun der Gasproblematik bis auf Weiteres auch die fehlende Wirtschaftlichkeit bzw. ein immenser Subventionsbedarf entgegensteht. (15) Dieser Befund gilt gegenwärtig für das relativ dicht besiedelte und hochindustrialisierte Deutschland genauso wie international, weshalb mit Vaclav Smil der Sachstand wie folgt bilanziert werden kann: „And even in this era of high-electronic miracles, it is still impossible to store electricity affordably in quantities sufficient to meet the demand of a medium-sized city (500,000 people) for only a week or to supply a megacity (more than 10 M people) for just a half day.” (16)

Was Gas nicht mehr und Wasserstoff noch lange nicht leisten können, können dagegen bestehende Kohlekraftwerke sehr wohl. Moderne Kohlekraftwerkstechnologie erlaubt eine ähnlich flexible Fahrweise wie die von Gaskraftwerken. Zu diesem Ergebnis kam schon 2017 der grüne Thinktank Agora Energiewende auf Basis einer Studie von Prognos und Fichtner. Danach bieten „Stromsysteme, die bisher vor allem auf Kohlekraftwerken basieren, viel mehr Platz für den Ausbau erneuerbarer Energien als vielfach behauptet wird.“ Demzufolge seien Kohlekraftwerke „nicht zwangsläufig ein Hindernis für den Ausbau erneuerbarer Energien.“ Denn selbst alte Kohlemeiler können, wie etwa Beispiele aus Deutschland und Dänemark zeigen, mit geringen Umrüstungen und relativ wenig wirtschaftlichem Aufwand „beinahe so flexibel betrieben werden wie Gaskraftwerke“ und durch am Bedarf orientiertes regelmäßiges Auf- und Abregeln so „ihre Stromproduktion weitaus flexibler an die schwankende Leistung von Wind- und Solarkraftwerken anpassen als bislang vielfach angenommen wird“. Damit ist es möglich, diesen Kohlestrom „zu geringen Kosten klimafreundlicher zu machen und dabei die Versorgungssicherheit mit Strom zu wahren.“ (17) Dabei ist noch unberücksichtigt, dass Kohle auch zusammen mit Biomasse oder Abfällen verfeuert werden kann, was zusätzliche Flexibilitäten beim Brennstoffinput ermöglicht.

Diese Aussage muss vor dem Hintergrund gesehen werden, dass Kohle nach wie vor eine zuverlässige und günstige Energiequelle der Stromerzeugung darstellt und weltweit mit nicht weniger als 37 % hierzu beiträgt, damit global gesehen weiter der Energieträger Nr. 1 der Stromerzeugung ist. Deutschland befindet sich mit seinem Kohleanteil derzeit ziemlich genau im globalen Durchschnitt. Es könnte aber eben dadurch zeigen, wie sich dieser Beitrag mit der Energiewende vereinbaren lässt. Zugleich kann Deutschland bei der Braunkohle weiter zu 100 % auf heimische Vorkommen zurückgreifen, sofern und solange die inländische Braunkohlengewinnung aufrechterhalten wird. Bei der Steinkohle gibt es zwar ebenfalls noch reichliche Vorkommen, die jedoch nach der vollzogenen kompletten Stilllegung des heimischen Steinkohlenbergbaus nicht mehr zugänglich sind bzw. rein technisch allenfalls sehr langfristig und vereinzelt noch einmal aufgeschlossen werden könnten. Verfügbar ist jedoch ein stabiles, relativ breit gefächertes und logistisch gut erschlossenes Angebot vom Steinkohlenweltmarkt jenseits russischer Lieferquellen, auf dem Deutschland schon lange Importbezüge tätigt, von Polen über Südafrika, Kolumbien und die USA bis hin zu Australien. Vom größten Exportland der Welt für Kesselkohlen, Indonesien, wurde bisher nach Europa und Deutschland praktisch nichts eingeführt, was vorwiegend qualitative Gründe hatte, die technisch und wirtschaftlich aber überwindbar erscheinen. Die indonesische Kohleindustrie befindet sich inzwischen in Verhandlungen mit einigen westlichen Staaten. (18)

Wenn hier der dauerhafte Einsatz von Kohle bzw. eines Kohle-/Gas-Mixes in der Stromerzeugung empfohlen wird, ist dies keineswegs als Widerspruch zum Ausbau der erneuerbaren Energien zu verstehen, sondern vielmehr als deren Backup. Wenn eines möglicherweise nicht mehr sehr fernen Tages hinreichende regenerative Kapazitäten sowie Langzeitspeicher etwa auf Wasserstoffbasis – oder was die energietechnische Forschung noch an Alternativen entwickelt – errichtet sind, können die Kohle- und Erdgaskraftwerke ohne Sorgen um die Stromversorgungssicherheit endgültig vom Netz genommen werden – doch erst dann. Das Einschalten der neuen Energieversorgung muss dem Abschalten der alten vorangehen, nicht umgekehrt.

Weil es zugleich infolge der Weichenstellungen durch die Energiewende am Strommarkt nicht mehr um einen echten Wettbewerb geht, sondern perspektivisch nur noch um die skizzierte Backup-Funktion bei Vorrang der Regenerativen, spricht sehr viel dafür, künftig für Kohle- und Gasstrom einen sogenannten Kapazitätsmarkt oder vergleichbare Kapazitätsmechanismen einzurichten. Als Kapazitätsmarkt bezeichnet man das Design eines Elektrizitätsmarkts, bei dem nicht mehr die tatsächliche Produktion bzw. der Verbrauch von Strommengen gehandelt und entgolten werden – sogenannter Energy Only-Markt – sondern stattdessen nur die bereit gestellten Leistungen eben für den Zweck der Vorhaltung von Ausgleichs- und Reservekapazitäten und deren steuerbar gesicherten Einsatz. In Deutschland wird darüber seit Jahren gestritten. Andere europäische Länder wie Frankreich oder Großbritannien haben Kapazitätsmärkte etabliert, was zeigt, dass EU-konforme Lösungen möglich sind. Eine Strommarktreform steht in Deutschland ohnehin auf der Agenda. Welche Aspekte dabei mit Blick auf die Stromversorgungssicherheit insgesamt beachtet werden müssen, hat der Bundesverband der deutschen Elektrizitäts- und Wasserwirtschaft (BDEW), der das Thema schon früher umfassend erörtert hat, 2021 noch einmal sorgfältig zusammengestellt, allerdings noch unter der Prämisse von Erdgas als Brücke in den Strommarkt der Zukunft (19). Diese Prämisse gilt nun nicht mehr, das Gebot der Stromversorgungssicherheit jedoch unverändert.

Kaum Nachteile für den Klimaschutz durch Kohle-Backup

Während gegen das Argument der Versorgungssicherheit und Preisgünstigkeit durch Kohle in der Regel keine ernsthaften Einwände erhoben werden können, lautet die übliche Kritik, Kohle sei eben der klimaschädlichste Energieträger und müsse deswegen zur Umsetzung der klimapolitischen Ziele als erstes aus dem Energiemix verdrängt werden. Abgesehen davon, dass dieser Ansatz des vollständigen Ausstiegs mit dem Grundprinzip eines ausgewogenen Energiemix schwer vereinbar ist und die zunächst gewählte Alternative Erdgas wegen der geopolitischen Lage und Entwicklung nicht mehr tragfähig ist, sind die Nachteile eines Kohle- statt Gas-Backup in der Stromerzeugung unter Klimaschutzgesichtspunkten auch wesentlich geringer als es in den oft verkürzten politischen Debatten erscheint.

Zunächst sei darauf hingewiesen, dass die Klimadebatte in Deutschland vor allem in den Beiträgen vieler Medien und Klimaaktivisten durch grobe Unverhältnismäßigkeit geprägt ist. Bei jeder Politik, so auch bei der Klimapolitik, müssen vielfältige Wechsel-, Neben- und Folgewirkungen berücksichtigt und Zielkonflikte austariert werden. Deswegen verfolgt die Energiepolitik seit je ein balanciertes Zieldreieck von Umweltverträglichkeit, die mehr ist als Klimaschutz, Sicherheit und Wirtschaftlichkeit der Energieversorgung. Ebenso hat jede dem Nachhaltigkeitsanspruch verpflichtete Politik, so auch die Energie- und die Klimapolitik, ökologische Gesichtspunkte mit ökonomischen und sozialen Aspekten sorgfältig abzuwägen.

Darüber hinaus sind Klimaschutz und Klimavorsorge ein globales Problem, das letztlich nur im globalen Maßstab gelöst werden kann und nicht einmal annähernd allein mittels der Klimapolitik in Deutschland, sei diese auch noch so ehrgeizig. Der Anteil Deutschlands an den weltweiten energiebedingten CO2-Emissionen, die gemäß den Energiedaten des Bundesministeriums für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK) 2019 insgesamt 34.040 Mio. t betrugen, lag exakt bei 2 %. Mehr als die Hälfte der globalen CO2-Emissionen stammt mit 50,5 % aus Asien/Ozeanien, allein auf China entfielen knapp 29 % des weltweiten CO2-Ausstoßes. Das wiederum war ungefähr das Doppelte der Emissionen der USA (14,7 %) und mehr als das Dreifache derjenigen der ganzen EU inkl. noch UK (8,6 %). Wenn Deutschland mit seinem derzeitigen Anteil von nur noch einem Fünfzigstel sofort Klimaneutralität erreichen und alle Emissionen umgehend auf Netto-Null reduzieren könnte, blieben davon nicht nur 98 % des weltweiten CO2-Ausstoßes unberührt, der Rückgang würde auch durch den Zuwachs der Emissionen in der übrigen Welt mit der jahresdurchschnittlichen Rate seit 1990 (rd. 1,6 %) schon binnen 15 Monaten völlig kompensiert. Natürlich könnte Deutschland klimapolitisch eine gewisse Vorbild- und Schrittmacherrolle erfüllen. Doch offensichtlich hat das im globalen Maßstab, auf den es hierbei ankommt, bisher nicht funktioniert, das Modell der deutschen Energiewende einschließlich des Kohleausstiegs wird im überwiegenden Teil der Welt nicht nachgemacht und selbst europäische Nachbarländer folgen ihr kaum, sie gehen nicht nur wie ganz offensichtlich in der Kernenergiepolitik vielfach andere energiepolitische Wege.

Der Anteil der Kohleverstromung in Deutschland an den weltweiten CO2-Emissionen liegt bei etwa 0,6 %, der Kohleausstieg hierzulande würde demzufolge in globaler Hinsicht in wenigen Monaten verpuffen. Überschätzt wird die Bedeutung des Kohleausstiegs aber häufig selbst aus einem rein nationalen Blickwinkel. Allein mit dem Ausstieg aus der Kohleverstromung und auch sonstiger Kohlenutzung kann nicht der große Durchbruch in Richtung nationaler Klimaneutralität erreicht werden. Denn dafür ist der Kohleanteil an den energiebedingten CO2-Emissionen in Deutschland im Vergleich zu den Kohlenwasserstoffen Mineralöl und Erdgas zu gering. Zwar war 1990 die Braunkohle noch der Energieträger mit den meisten CO2-Emissionen in Deutschland und auf die Kohle insgesamt (Braun- und Steinkohle zusammen) entfielen mehr als die Hälfte. Doch diese Relationen haben sich in den letzten drei Dekaden fundamental verändert. Im Jahr 2000 war das Mineralöl der Energieträger mit dem größten Anteil an den inländischen CO2-Emissionen und zuletzt (2021) entfiel auf das Mineralöl allein mit einem Emissionsanteil von 35 % mehr als auf die Kohle insgesamt (34 %). Dabei gab es zwar von 1990 bis 2021 eine kräftige Minderung des vom Mineralölverbrauch verursachten CO2-Ausstoßes um 32 %, doch bei der Steinkohle (– 56 %) und der Braunkohle (– 62 %) noch erheblich stärkere Rückgänge. Demgegenüber verzeichnete das Erdgas unter den konventionellen Energieträgern als Einziger einen beträchtlichen Zuwachs von 47 % – als Substitut teils des Mineralöls, teils der Kohle. Auf die Kohle insgesamt entfällt mittlerweile nur noch ein Anteil von 34 %, auf die Kohlenwasserstoffe insgesamt aber von 62 % an den energiebedingten CO2-Emissionen in Deutschland (Bild 6).

Fig. 6. Development of CO2 emissions in Germany in comparison with other energy sources. // Bild 6. Entwicklung der CO2-Emissionen in Deutschland im Energieträgervergleich. Source/Quelle: BMWK Energiedaten 2022 (hier Daten bis 2010); Schiffer in ET 3/2022 (Daten für 2021); eig. Berechnungen

Mit einem vollständigen Kohleausstieg kann also allenfalls ein Drittel des Wegs zur nationalen Klimaneutralität erreicht werden, bei einem verstärkten Erdgaseinsatz wäre es noch weniger. Jedem Entscheidungsträger, jedem Unternehmen und jedem Bürger muss daher klar sein, dass der Weg zur Klimaneutralität nicht nur den Kohleausstieg zu bedeuten hat. Vielmehr verlangt dieser auch Ausstiegspfade für Erdgas und Mineralöl mit ihren breiter und diffuser verteilten direkten Konsumenten, womit klimapolitisch „dickere Bretter zu bohren“ sind – was jedoch in Deutschland später begonnen worden ist. Das wird in den Medien immer noch unzureichend klar vermittelt.

Klimapolitisch ist eine Priorität des Kohleausstiegs jedenfalls nicht mit den faktischen Gewichten zu begründen. Umgekehrt verspricht unter Klimaschutzaspekten eine vorläufige Beibehaltung der Kohle in der Stromerzeugung keine erheblichen Nachteile gegenüber der „Brücke“ Erdgas, weil bei Ausklammerung von Pipelinetransporten aus Russland und angesichts rückläufiger Lieferungen aus anderen europäischen Ländern in globaler Sicht unter Einbeziehung der Lieferwege Flüssiggastransporte von US-Schiefergas eine schlechtere CO2-Bilanz aufweisen als heimische Braunkohle und importierte Steinkohle, Flüssiggastransporte per Schiff von Algerien oder Katar nur etwas besser abschneiden. (20) Dabei ist die Frage von Methanaustritten bei der Gasförderung oder bei Leckagen auf dem Transportweg oder bei den Umwandlungsvorgängen noch gar nicht angesprochen.

Klimapolitisch anerkannt werden muss auch, dass es nur um eine zunehmend beschränkte Rolle der Kohle im Strommarkt als Ausgleichs- und Reservekapazität für die Erneuerbaren geht und nicht darum, den Anteil der laufenden Stromerzeugung aus Kohle selbst hochzufahren. Wie die Fach-Website „Tech for Future“ gezeigt hat, die ebenfalls vom Einsturz der Gas-Brücke ausgeht („Erdgas als Brückentechnologie ist gestorben“), kommt es für die CO2-Emissionen der Stromerzeugung nicht darauf an, wieviel Kohlekapazität abgeschaltet wird, sondern wieviel Kohle tatsächlich in den Kraftwerken verbrannt wird. Kohlekraftwerke, die nur wenige Stunden in der Stromerzeugung laufen, wenn eben Wind- und Solarstrom nicht genügend verfügbar ist, ansonsten aber nur als Sicherheitsreserve im Stand-by-Betrieb stehen, haben auch einen dementsprechend geringen CO2-Ausstoß. Tech for Future hat für 2030 mit der Annahme, dass der Jahresstromverbrauch in Deutschland auf 700 TWh ansteigt, 30 GW Erdgas zugebaut werden und das Ausbauziel für regenerativen Strom von 80 % erreicht wird, einen Fall für die Laufzeit eines kohlebasierten Backups durchgerechnet. Als repräsentativ unterstellt werden die Wetterdaten von 2015 bis 2021. Dann hätte eine Ausgleichs- und Reservekapazität von 40 GW auf Kohlebasis (je 50 % Braun- und Steinkohle) im Schnitt eine Auslastung von lediglich 3,6 % bzw. 319 h/a. Die 5 GW am meisten genutzter Backup-Leistung kämen zwar auf bis zu 70 % Auslastung, andere Kohlekraftwerke würden dagegen kaum noch laufen, die 5 GW am wenigsten genutzter Backup-Leistung kämen sogar auf bloß 0,05 % Auslastung bzw. 4 h/a, und auf Dauer stünden sie in manchen Jahren ganz still. Insgesamt würden 2030 nur 1,6 TWh Kohlestrom produziert statt der 163 TWh wie im Jahr 2021. Das wäre ein Rückgang um 99 %, und das würde so auch für die CO2-Emissionen der verbliebenen Kohleverstromung gelten. Ohne totalen Kohleausstieg, aber mit Versorgungssicherheit durch vorgehaltene Kohlekraft. (21)

Auch das renommierte Beratungsunternehmen McKinsey geht davon aus, dass auf dem Weg der Energiewende nun im Zeichen der Gasknappheit auf keinen Fall mehr ein vorgezogener Ausstieg aus der Kohle zu schaffen ist, selbst wenn Erdgas weiter einen wichtigen, jedoch geringeren Beitrag leistet. Im Kontext des von McKinsey aufgestellten Energiewende-Index wurden drei Strommix-Szenarien für 2030 mit einer Vielzahl von energiewirtschaftlichen Annahmen und Varianten durchgerechnet, die angesichts anhaltender Verknappung und Verteuerung von Erdgas alle einen weiter signifikanten Kohlestromanteil vorausschätzen, der zudem über die Rolle als reine Sicherheitsreserve hinausginge. Im Szenario „Plan der Bundesregierung“ wird zwar der planmäßige Ausbau der erneuerbaren Stromproduktion, der Elektrifizierungen und auch der Wasserstoffkapazitäten sowie ein Festhalten am gesetzlichen Kohleausstieg bis 2038 unterstellt. Gleichwohl müsste Kohlestrom 2030 mit 63 TWh „zur Sicherung einer lückenlosen Versorgung“ beitragen. Das wäre ein Rückgang gegenüber 2021 um 61 %, in diesem Umfang auch der daraus resultierenden CO2-Emissionen – die somit beim Strom aus Kohle seit 1990 um gut 84 % gesenkt worden sein würden. Das Planziel der Emissionsminderung im Elektrizitätssektor würde gleichwohl noch erreicht. Deutlich mehr Kohlestrom wäre 2030 in Deutschland allerdings zu erwarten in den beiden Alternativszenarien „Weitgehende Selbstversorgung“ und „Strom aus Europa“ aufgrund von Preiseffekten. In diesen Szenarien wird unterstellt, dass Deutschland zwar den Ausbau der erneuerbaren Energien beschleunigt, doch dass es seine ambitionierten Ziele bis 2030 nicht vollständig erreicht und noch weniger Gas importiert. Das würde auch die CO2-Emissionen des Stromsektors dann relativ in die Höhe treiben. Bereits jetzt „auf der Kippe“ steht gemäß McKinsey die sogenannte gesicherte Reservemarge, also der Anteil notwendiger gesicherter Leistung. Bei einem Kohleausstieg bis 2030 fiele diese in den negativen Bereich, d. h. die Sicherheit der Stromversorgung wäre künftig nicht mehr jederzeit zu gewährleisten. (23)

Um auf Dauer auch die restlichen CO2-Emissionen der Kohleverstromung auszuschalten und den Zielkonflikt zwischen dem Versorgungssicherheitsvorteil und dem Klimaschutznachteil der Kohleverstromung weitgehend aufzulösen, bietet sich indessen die Anwendung von CCS bzw. CCUS-Technologien an, also die Abscheidung und Speicherung und/oder Nutzung des CO2. Solche Technologien sind verfügbar und sollen ohnehin für die unvermeidbaren Restemissionen in bestimmten anderen Wirtschaftszweigen genutzt werden. Doch auch bei der Stromerzeugung aus Kohle ginge es künftig nur noch um Restemissionen. Für diese gäbe es außerdem einige Möglichkeiten der wirtschaftlichen Nutzung etwa für die Herstellung spezieller Kunststoffe oder von synthetischen Treibstoffen oder für die chemisch nötige Kohlenstoffzugabe bei der Re-Methanisierung von Wasserstoff. (22) Ein solches deutsches „Clean Coal“-Programm unter Erschließung von kommerziellen Kreisläufen für die Nutzung von CO2 hatte schon 2011 die Ethik-Kommission „Sichere Energieversorgung“ begleitend zum Atomausstieg empfohlen. (24) Diese Empfehlung ist nun wieder aktuell.

Rohstoffaspekte eines Kohleausstiegs umfassender bedenken

Die gesetzlich vorgeschriebene Überprüfung des Kohleausstiegs in Deutschland verlangt wie o. e. auch die Berücksichtigung von Rohstoffaspekten, explizit im Hinblick auf Gips für die Bauindustrie. Baustofflich nutzbarer Gips entsteht bislang in relativ großen Mengen bei der Rauchgasentschwefelung der Kohlekraftwerke. Er müsste künftig verstärkt durch Abbau der hierzulande begrenzten Naturgipsvorkommen oder durch Importe ersetzt werden. Gleich mitbedacht werden sollten die Versorgungsperspektiven weiterer Nebenprodukte der Kohlekraftwerke wie Flugaschen oder Kesselsande, die ebenfalls als Zuschlagstoffe von der Bauwirtschaft nachgefragt werden. Eine besondere energetische wie stoffliche Rolle spielt zudem die Rohkohle in der Zement- und Kalkindustrie. Der Bausektor ist also recht stark vom Kohleausstieg betroffen. Ein Aussetzen des Kohleausstiegs würde die Versorgungslage dieses Wirtschaftszweigs, der zugleich für die Umsetzung vieler anderer Ziele und Vorhaben der Energiewende von essenzieller Bedeutung ist, entspannen und den Zeitdruck für seine Umstellung mildern. Solche Neben- und Folgewirkungen sind stets zu beachten.

Der deutsche Kohleausstieg ist als Ausstieg aus der Kohleverstromung konzipiert, dem Hauptverwendungsbereich von Braun- und Steinkohle. Er bezieht sich nicht direkt auf die stofflichen Nutzungen von Kohle, von ihren Nischenfunktionen im Wärmemarkt in Form von Briketts für Heizzwecke über den Einsatz von Kokskohle und Koks für die Erzeugung von Rohstahl oder etwa im Gießereiwesen bis zu vielfältigen Nutzungsmöglichkeiten in der chemischen Industrie. Diese Sektoren sind jedoch von diversen anderen klimapolitischen Maßnahmen betroffen, die ohne direkte Zeitvorgabe einem Kohleausstieg gleichkommen. Auch für diese Bereiche der stofflichen Kohlenutzung könnte ein langsamerer Rückzug aus dem Kohlemarkt sinnvoll und hilfreich für die Bewältigung der Transformation sein, zumal auch hier Erdgas als Brücke brüchig geworden ist.

Exemplarisch hervorgehoben seien die braunkohlebasierten Montanwachse der Romonta GmbH aus Amsdorf in Sachen-Anhalt, seit 100 Jahren in der Braunkohlenveredelung tätig, gestützt auf einen eigenen Tagebau und weltgrößter Erzeuger von Rohmontanwachs, ein „hidden champion“. Die Produkte der Romonta haben ein vielfältiges Einsatzspektrum wiederum vom Bauwesen über die Investitions- bis zur Konsumgüterindustrie. (25) Dieses Beispiel soll nur belegen, dass die mit dem Kohleausstieg verknüpften rohstofflichen Aspekte und ihre wirtschaftlichen Zusammenhänge umfassender bedacht werden sollten, als es landläufige Forderungen nach einer möglichst schnellen Beendigung der Kohlenutzung tun.

Ebenso ist in Bezug auf die Rohstoffaspekte des Kohleausstiegs ausdrücklich zu fordern, dass die rohstoffliche Basis für die als Alternativen angesehenen erneuerbaren Energien oder die Wasserstofftechnologie hinreichend und mit Blick auf die Sicherung der Versorgung auch bei weltweit wachsender Nachfrage und der Konzentration der Rohstoffvorkommen auf kritische Lieferländer geklärt wird, damit diese Gebiete nicht das gleiche Ungemach ereilt, wie es sich aktuell bei der Erdgasversorgung ergeben hat. Die Energiewende benötigt enorme Ressourcen an Material, neben den schon angesprochenen klassischen Baurohstoffen große Mengen an Spezialrohstoffen, insbesondere „kritische“ Metalle. Einige von diesen sind bereits knapp, auf andere haben einzelne Staaten wie China Beinahemonopole, weshalb Fachleute in diesem Bereich vor den nächsten Abhängigkeiten warnen, worauf das Spektrum der Wissenschaft vor kurzem hingewiesen hat. Zwar gibt es hierfür Lösungswege, doch sind diese politisch-gesellschaftlich nicht unbedingt beliebt und dauern lange, wie eine Rückbesinnung auf heimische Vorkommen und eigenen Bergbau und mehr Forschung auch im Nachbergbau. (26)

Mehr Zeit und Reifegrad für den regionalen -Strukturwandel

Ein Aussetzen des Kohleausstiegs hätte darüber hinaus klare regionalpolitische Vorteile. Die durch die Zeitenwende ausgelöste Energiekrise ist, wie sich erweist, mit Rezessionsrisiken und schweren gesamtwirtschaftlichen Verwerfungen verbunden. Eine solche von einem externen Schock geprägte, problematische makroökonomische Wirtschaftslage erschwert auch und gerade den regionalen Strukturwandel, der möglichst im Sinne von Schumpeters „schöpferischer Zerstörung“ neue Wertschöpfung und Arbeitsplätze anstelle wegfallender alter Produktionsweisen an bestehenden Standorten etabliert – oder bei Widrigkeiten eben nicht so schöpferisch wirkt. Für die Kohleregionen, denen mit einem politisch forcierten Kohleausstieg ihr industrieller Kern genommen wird, gilt das in besonderem Maß. (27)

Unter solchen Bedingungen muss einem erfolgreichen regionalen Strukturwandel im Zuge des Kohleausstiegs mehr Zeit und damit mehr Möglichkeit zum Ausreifen gegeben werden, anstatt ihn noch vorzuziehen. Die jahrzehntelangen Erfahrungen mit dem Strukturwandel im Ruhrgebiet infolge des Niedergangs der Montanindustrien belegen sozusagen als „lessons learned“, dass es 15 bis 30 Jahre braucht, um altindustrielle Standorte wieder marktfähig und zu regionalökonomischen Aktivposten zu machen. Dafür gibt es weder allgemeine noch kohlespezifische strukturpolitische Patentrezepte, nur die realistische Erkenntnis, dass für die jeweiligen Standorte und Regionen maßgeschneiderte Lösungen und ein langer Atem nötig sind, um auch Fehleinschätzungen, Widerstände und Rückschläge zu überwinden. (28) Ein Kohleausstieg bis 2038 läge somit am frühestmöglichen Rand der erfahrungsgestützten Bandbreite, sogar 2045 wäre nur im mittleren Bereich, 2030 käme dagegen deutlich zu früh.

Letzteres stützen auch erste Befunde zum bisher politisch angestoßenen Strukturwandel in den ostdeutschen Braunkohlenregionen. Dieser ist recht schleppend angelaufen und verläuft mit Blick auf einen Ausstieg vor 2038 „deutlich zu langsam“, befindet eine Analyse vom IW Köln, die zu dem Schluss gekommen ist: „Noch geht’s nicht ohne Kohle“. An anderer Stelle heißt es: „Auch der Krieg in der Ukraine erfordert ein Umdenken“, weil durch diesen nämlich etliche Annahmen der 2020 auf den Weg gebrachten Strukturförderung bereits überholt sind. Doch auch ohne den Faktor Zeitenwende ist das ursprünglich unterstellte Tempo von Planungs- und Genehmigungsverfahren in der Praxis bisher zu gering, andere vorgesehene Maßnahmen sind nicht genügend zielgenau. (29) Als Beispiel genannt wird die als großes Infrastrukturvorhaben für das Lausitzer Revier geplante ICE-Verbindung von Berlin über Cottbus nach Görlitz, für die immer noch grundlegende Planungsentscheidungen fehlen. Ebenso wenig geht es mit dem avisierten Ausbau von Breitbandnetzen und des 5G-Mobilfunks nicht nur, aber eben auch in den Braunkohlenregionen voran. Planerisch weiter gediehen ist zwar das Vorhaben der Ansiedlung des Fernstraßenbundesamts in Leipzig. Aber, so fragt das IW plausibel, „was bringen Arbeitsplätze in einer boomenden Großstadt, wenn Braunkohlenarbeitsplätze in ländlichen Regionen (des Mitteldeutschen Reviers) wegfallen“ und zugleich die typischen „Anforderungen an Behördenjobs stark von den Anforderungen wegfallender Industriejobs abweichen“. Stattdessen müsse der Fokus auf die Ansiedlung neuer, privater Unternehmen vor allem aus der Industrie gelegt werden. Generell sei zu beachten, so das IW, „Um den Strukturwandel zu schaffen, braucht es, neben den richtigen Maßnahmen, vor allem Zeit.“ (30)

Staatliche Infrastrukturmaßnahmen, wie sie das Strukturstärkungsgesetz Kohleregionen vor allem beinhaltet, erscheinen als eine notwendige, aber keineswegs hinreichende Bedingung für einen erfolgreichen regionalen Strukturwandel. Sie schaffen Voraussetzungen für private wirtschaftliche Aktivitäten. In den deutschen Kohleregionen geht es dabei teilweise zunächst um die Deckung von Nachholbedarf, um mit strukturstärkeren Regionen wenigstens annähernd gleichzuziehen. Entscheidend ist jedoch die Entfachung neuer wachstums- und beschäftigungsstarker privatwirtschaftlicher Aktivität. Wie dafür private Investoren durch staatliche Rahmensetzungen zu Aktivitäten in den Kohleregionen angeregt werden könnten, ist vom IW schon früher untersucht worden. Ebenso gibt es eine ganze Palette sogenannter place-based job policies, die sich zum Einsatz bringen ließen oder ergänzend zu prüfen wären, von finanziellen Incentives wie bestimmten Beihilfen und Steuererleichterungen bis zu öffentlich vor Ort bereitgestellten materiellen Dienstleistungen wie maßgeschneiderten Beratungs- und Qualifizierungsangeboten. (31) Doch solche Ansätze müssen nicht nur entwickelt, sondern immer wieder nachjustiert werden und im Standortwettbewerb ausreifen, um erfolgswirksam werden zu können.

Dabei geht es nicht nur um die Anwerbung und Ansiedlung von Unternehmen, die bisher außerhalb der Kohleregionen tätig waren, oder um Neugründungen und Start-ups in eben diesen Regionen, für die es selbstverständlich ebenfalls angemessene Förderung geben muss, deren Erfolg aber im Ausmaß und auf der Zeitschiene schwer voraussehbar ist. Ebenso der Unterstützung bedarf die bestehende regionale Wirtschaft an den Standorten, welche direkt und indirekt vom Kohleausstieg besonders betroffen wird, darunter zuallererst die kohleverstromenden Energieversorger und die Kohlebergbauunternehmen selbst. Ihnen müssen genügend Spielräume und Chancen gegeben werden, ihre innovativen Potentiale in den regionalen Strukturwandel einzubringen und, soweit möglich, ihr Know-how und ihre gewachsenen Wertschöpfungsketten durch neue Nutzungen (Repurposing) zu erhalten. (32) Wesentliche Voraussetzungen dafür sind, dass das bisherige Kerngeschäft lange genug stabil gehalten wird und die neuen Aktivitäten genügend rentierliche Nutzungsdauern aufweisen, um die nötigen Investitionen zur Umstellung und Neuausrichtung der Standorte finanzieren zu können. Das beinhaltet neben den rein ökonomischen Kriterien eine zeitliche Dimension, die Transitionszeit, die von allen erforderlichen Planungs- und Genehmigungsphasen über den Zeitbedarf für die Sicherung und Sanierung der Altstandorte, der Materialbeschaffung, den Bau oder die Umrüstung des Sachkapitals und der Infrastruktur, die Erschließung aller nötigen Versorgungsquellen einschließlich aller nötigen Maßnahmen zur Rekrutierung und/oder Qualifizierung des Personals und schließlich für die Aufnahme, Marktentwicklung und Etablierung der neuen Produktionen. Je kürzer die verfügbare Transitionszeit ist, desto größer sind tendenziell die ökonomischen Risiken und desto geringer sind die Möglichkeiten zu regional tragfähiger Veränderung.

Die deutsche Kohleindustrie beteiligt sich längst selbst aktiv am Umbau der Kohleregionen in Richtung auf die geplante neue klimafreundliche Energiewelt. So betreibt die heimische Braunkohlenindustrie auf ihren Bergbaufolgeflächen in allen Revieren massiv den Ausbau von erneuerbaren Energien in Kombination mit Batterie- und/oder Wasserstoffprojekten. Sie geht allerdings davon aus, dass „Grünstrom mit gesicherter Leistung gekoppelt“ bleibt und die Strukturentwicklung auf verlässlichen Vorgaben beruht. Ein Kohleausstieg bis 2030 wäre für sie deshalb „schwer vorstellbar“, schon das gesetzliche Ausstiegsdatum 2038 mit der Annahme einer Gasbrücke für die Energiewende „stellt die Reviere tatsächlich vor große Herausforderungen“ (Bild 7). (33)

Fig. 7. Previous closure plan for lignite plants from the regional perspective. // Bild 7. Bisheriger Stilllegungsplan Braunkohlenblöcke in regionaler Perspektive. Source/Quelle: BMWi

Wie kritisch der Zeitfaktor auch für die gesamte öffentliche Regionalplanung rund um die Kohlereviere ist und wie fatal sich ein zu schneller Kohleausstieg bzw. ein zu großer Transformationsdruck auf die regionale Einkommens- und Beschäftigungsentwicklung auswirken kann, haben gerade die ostdeutschen Länder bereits in den 1990er Jahren erfahren müssen. Und das Beispiel der westdeutschen Steinkohlenreviere an Ruhr und Saar mit ihren anhaltend überdurchschnittlichen Arbeitslosen- und Armutsquoten nach einem jahrzehntelangen Anpassungsprozess bis hin zum endgültigen Auslauf gibt wenig Anlass zur Hoffnung, den Strukturwandel in wenigen Jahren erfolgreich bewältigen zu können.

Dem widerspricht nicht, dass die mit dem Strukturstärkungsgesetz Kohleregionen bereitgestellte massive Strukturförderung im Erfolgsfall durchaus einen positiven Strukturwandel auslösen und die Kohleregionen wirtschaftlich auf Dauer besserstellen kann als früher. Das gilt aber nur dann, wenn die bis 2038 zugesagten Mittel wirklich zeitgerecht fließen und bestmöglich zur Entfaltung gebracht werden. Das ist jedenfalls das Resultat der von IW Consult im Auftrag der Landesregierung Nordrhein-Westfalens durchgeführten, Ende 2021 fertig vorgelegten Studie über die spezifischen Arbeitsplatz- und Wertschöpfungseffekte der mit dem Strukturstärkungsgesetz Kohleregionen vorgesehenen Strukturförderung im Rheinischen Revier. (34) Danach könnten die von Bund und Land 2020 zugesagten Strukturfördermittel von 14,8 Mrd. € bis 2038 im Trend-Szenario zusammen mit privaten Investitionen auf ein Wertschöpfungspotential von rd. 53 Mrd. € gehebelt werden. Dadurch würden in der Region und darüber hinaus 27.000 neue Arbeitsplätze geschaffen, mit denen die durch den Ausstieg aus der Braunkohlenverstromung wegfallenden 14.400 Arbeitsplätze rechnerisch deutlich überkompensiert würden. Freilich sind dies noch längst keine Realitäten, sondern lediglich Szenarienrechnungen für ökonomische Potentiale, die von vielen Voraussetzungen abhängen. Dazu gehören die besonderen strukturellen Gegebenheiten des Rheinischen Reviers, die günstiger sind als die der ostdeutschen Braunkohlenregionen. Eine weitere zentrale Voraussetzung ist der planmäßige Kohleausstieg bis 2038. Ein schon auf 2030 vorgezogener Kohleausstieg würde – das wird von dieser Studie ausdrücklich herausgestellt – unter sonst gleichen Bedingungen mehrere tausend Arbeitsplätze und mehrere Milliarden Euro an Wertschöpfung weniger bedeuten. Durch die Gaskrise und die „Zeitenwende“ sind jedoch die Ausgangsbedingungen inzwischen nicht mehr die gleichen. Die Studie verweist ebenfalls explizit auf starke wirtschaftliche Wechselwirkungen mit weiteren, über die unmittelbaren Vorleistungs- und Zulieferbranchen der Kohleindustrie hinausgehenden Sektoren. Dies gelte insbesondere für energieintensive Industriezweige, z. B. Aluminium, mit rd. 50.000 Arbeitsplätzen in und um die Region, für welche die Braunkohle bislang ein kostengünstiger und verlässlicher Energielieferant ist und deren Zukunft entscheidend davon abhängt, dass ihre Produkte und Produktionsprozesse unter Berücksichtigung der Energiekosten wettbewerbsfähig bleiben. IW Consult bezieht sich auf Berechnungen des Wirtschaftsforschungsinstituts RWI, wonach stark steigende Energiepreise bis zu 20.000 Arbeitsplätze in diesen Industriezweigen allein im Rheinischen Revier gefährden würden und die regionale Beschäftigungsbilanz insgesamt verschlechtern würde (35). Dieser Fall ist 2022 eingetreten.

Auch für den planmäßigen Kohleausstieg bis 2038 gibt es ein „pessimistisches Szenario“, in dem Wertschöpfung und Beschäftigung erheblich geringer ausfallen als im Trend-Szenario. Und dass sich dadurch ergeben könnte, „dass die Einbindung der Unternehmen nicht in gewünschtem Maße gelingt, Mitnahme- und Substitutionseffekte beispielsweise beim Kauf von Maschinen und Anlagen größer ausfallen, Synergieeffekte zwischen Projekten nicht realisiert werden und dadurch Ausstrahlungseffekte eine geringere Bedeutung entwickeln“. Ohnehin wird vorausgesetzt, dass der Schlüsselfaktor „Auswahl und Priorisierung der Projekte“ ökonomisch so gut wie möglich umgesetzt wird, regelmäßig sachlich angemessene Evaluierungen und Rekalibrierungen der Projekte erfolgen, bürokratische Hindernisse und Fallstricke unterbleiben oder etwa bestehende Flächenverfügbarkeiten strategisch optimal genutzt und industrielle Flächenpotentiale genügend realisiert werden können. (36) Dies sind sozusagen inhärente Erfolgsrisiken jeglicher Strukturförderung auch unter stabilen Rahmenbedingungen, die sich realistischerweise kaum alle vermeiden lassen und darum in der Praxis gelegentlich zeitraubende Korrekturprozesse erfordern. Allein das spricht dafür, das Jahr 2038 zeitlich nach oben zu korrigieren oder zumindest als Zeitziel weicher zu fassen.

Wenn negative gesamtwirtschaftliche Entwicklungen wie die aktuelle Krise indes bereits die Wirkung der initialen Investitionen (Verkehrsinfrastruktur, Forschung und Bildung, digitale Transformation etc.) beeinträchtigen, die gerade in den ersten Jahren der Strukturförderung die maßgeblichen Impulse geben sowie sogenannte Quick Wins versprechen, und infolgedessen z. B. vorerst weniger privates Kapital gehebelt werden kann oder sich öffentliche Aufträge nicht wie geplant erfüllen lassen, werden die davon ausgehenden direkten, indirekten und induzierten Effekte und ebenso die damit verknüpften Ausstrahlungseffekte verringert oder mindestens verzögert und der erwartete Gesamteffekt für regionales Wirtschaftswachstum und Beschäftigung beeinträchtigt. Das betrifft dann auch in qualitativer Weise die in der Studie skizzierten inhaltlichen Zielsetzungen des aufgelegten Strukturprogramms, das aus dem Rheinischen Revier eine „Modellregion“ sowohl für versorgungssichere grüne Energie und moderne wettbewerbsfähige Industrie als auch für nachhaltige Ressourcennutzung und das Agrobusiness machen soll. (37) Die Zeitenwende in der Energiepolitik hat auch für diese Vorhaben die Voraussetzungen mehr als erheblich geändert und das Tempo gedrosselt.

Fig. 8. Coal power – the resilient bridge for the energy transition. // Bild 8. Kohlestrom – die belastbare Brücke für die Energiewende. Photo/Foto: STEAG

Für alle anderen Kohleregionen und -standorte in Deutschland, ob basiert auf Braunkohle oder Steinkohle, gilt Ähnliches (Bild 8). Ein Aussetzen des Kohleausstiegs unter Beibehaltung der eingeleiteten Strukturförderung könnte diese negativen Effekte auch regionalpolitisch dämpfen und die Aussichten auf einen langfristig erfolgreichen Strukturwandel verbessern. Es ist nicht nur im Interesse der Zukunft der Kohleregionen, das eine zu tun, das mittlerweile energiepolitisch angezeigt ist, ohne das andere zu lassen, das regionalpolitisch nötig bleibt.

References / Quellenverzeichnis

References / Quellenverzeichnis

(1) Siehe die Darstellung zu Kohleausstieg und Strukturwandel des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie, seit Ende 2021 für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK) unter https://www.bmwk.de/Redaktion/DE/Artikel/Wirtschaft/kohleausstieg-und-strukturwandel.html

(2) Koalitionsvertrag „Mehr Fortschritt wagen. Bündnis für Freiheit, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit“ zwischen SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP vom 28.11.2021, hier S. 58f.

(3) Siehe WELT vom 15.8.2022: Ampel verschiebt wohl ersten Bericht zum Kohleausstieg. Energiewirtschaftliche Tagesfragen 72 Jg. 2022, H. 5, S. 35 – 40.

(4) Vgl. Umbach, F.: Erdgas als Waffe. Der Kreml, Europa und die Energiefrage. Berlin 2022, S. 51f. sowie die Rezension zu diesem Buchessay von K. van de Loo: Erdgas als Waffe – wider die geopolitischen Illusionen bei der Energie- und Rohstoffversorgung. In: Energiewirtschaftliche Tagesfragen 73. Jg. (2022) H. 9, S. 59.

(5) Siehe Umbach 2022, S. 46ff, 53ff.

(6) Vgl. ebenda S. 7ff.

(7) Siehe ebenda S. 71ff.

(8) Handelsblatt vom 29.8.2022: Energiekrise: Wirtschaftsminister will Strompreisreform.

(9) Siehe zum Ersatzkraftwerke-Bereithaltungsgesetz, wichtigen Details und Begründungen: https://www.bundesregierung.de/breg-de/themen/klimaschutz/gasersatz-reserve-2048304

(10) Handelsblatt vom 25.8.2022: Industrie in der Energiepreisfalle.

(11) Siehe BGR Energiestudie 2021- Daten und Entwicklungen der deutschen und globalen Energieversorgung, insb. S. 17ff., abrufbar unter: https://www.bgr.bund.de/DE/Themen/Energie/Downloads/energiestudie_2021.html

(12) van de Loo, K.: Der Kohleausstieg – ein energie- und regionalwirtschaftliches Abenteuer. In: Mining Report Glückauf 155 (2019) H. 2, S. 178 – 193.

(13) Siehe BCG-Gutachten (i. A. BDI): Klimapfade 2.0. Ein Wirtschaftsprogramm für Klima und Zukunft. Berlin 2021, hier insb. S. 11.

(14) Siehe Niederhausen, H. (Hrsg.): Generationenprojekt Energie-wende. Elektroenergiepolitik im Spannungsfeld on Vision und Mission. Norderstedt 2022, insb. S. 35ff., 127ff., 237ff.

(15) Vgl. ebenda insb. S. 109ff., 251ff.

(16) Smil, V.: How the world really works. A Scientist’s guide to our Past, Present and Future. Dublin 2022, p 33.

(17) Siehe zu den Schlussfolgerungen von Agora Energiewende aus den Studienresultaten: https://www.agoraenergiewende.de/fileadmin/Projekte/2017/Flexibility_in_thermal_plants/PM_Agora_FlexCoal_06062017.pdf, ferner die Studie von Prognos und Fichtner selbst „Flexibility in thermal power plants. With a focus in existing coal-fired plants“, abrufbar unter: https://static.agora-energiewende.de/fileadmin/Projekte/2017/Flexibility_in_thermal_plants/115_flexibility-report-WEB.pdf

(18) Zu den Steinkohlenimporten nach Deutschland und der Kohle-weltmarktsituation siehe den Jahresbericht des VDKi – Fakten und Trends 2021/22. Berlin 2022.

(19) Siehe BDEW: Fakten und Argumente – Versorgungssicherheit Strom. Berlin 2021, abrufbar unter: https://www.bdew.de/media/documents/20210930_Awh_BDEW-Fakten-und-Argumente_Versorgungssicherheit-Strom.pdf

(20) Siehe Niederhausen, a.a.O., S. 302ff.

(21) Die Berechnungen von Tech for Future sind dargelegt und abrufbar unter: https://www.tech-for-future.de/kohleausstieg/

(22) Siehe Niederhausen, a.a.O., S. 63ff., 326f.

(23) Siehe Energiewende-Index | Germany | McKinsey & Company sowie dazu den einschlägigen Fachartikel von Vahlenkamp, T. et al.: Strommix 2030: Kann Deutschland von Energieimporten unabhängiger und gleichzeitig klimaneutral werden? In: Energiewirtschaftliche Tagesfragen 72. Jg. (2022) H. 9, S. 53ff.

(24) Abschlussbericht der (nur temporär eingesetzten) Ethik-Kommission „Sichere Energieversorgung“ vom 30.5.2011: Deutschlands Energiewende – ein Gemeinschaftswerk für die Zukunft steht zum Download zur Verfügung u.a. beim Nachhaltigkeitsrat: https://www.nachhaltigkeitsrat.de/wp-content/uploads/migration/documents/2011-05-30-abschlussbericht-ethikkommission_property_publicationFile.pdf

(25) Eine Selbstdarstellung der Romonta und ihrer Produkte findet sich unter: https://www.romonta.de/de/unternehmen

(26) Siehe dazu etwa den warnenden Artikel im Spektrum der Wissenschaft vom 3.4.2022: Die Energiewende bekommt ein Rohstoffproblem. Abrufbar unter: https://www.spektrum.de/news/fuer-die-energiewende-werden-die-rohstoffe-knapp/2005387. In der Nachbergbauforschung wird u. a. eruiert, wichtige Wertstoffe für die Energiewende aus Grubenwässern stillgelegter Bergwerke zu gewinnen, siehe beispielhaft das Projekt IAW33 des Forschungszentrums Nachbergbau an der TH Georg Agricola in Bochum; mehr dazu unter: https://fzn.thga.de/wertstoffe-aus-grubenwasser/

(27) Vgl. dazu etwa van de Loo, K.: Energie- und regionalökonomische Konsequenzen der Kohlekommission. In: Energiewirtschaftliche Tagesfragen 69. Jg. (2018) H. 10, S. 12ff.

(28) van de Loo, K.; Brüggemann, J.: Nachbergbauforschung zu Reaktivierung und Transition. In: Mining Report Glückauf 157 (2021) Nr. 2, S. 127 – 139, hier insb. S. 137.

(29) Die betreffende Analyse des IW vom 1.9.2022 ist abrufbar unter: https://www.iwkoeln.de/presse/iw-nachrichten/klaus-heiner-roehl-noch-gehts-nicht-ohne-kohle.html

(30) Ebenda.

(31) van de Loo, K.; Tiganj, J.: Beschäftigungsimpulse für (Kohle-) Nachbergbauregionen. In: Mining Report Glückauf 157 (2021) Nr. 1, S. 22 – 39.

(32) Vgl. ebenda S. 37.

(33) Siehe dazu das Interview mit dem DEBRIV-Vorsitzenden Philipp Nellessen unter dem Titel „Energiekrise, Strukturentwicklung und Versorgungssicherheit“. In: Energiewirtschaftliche Tagesfragen 72. Jg. (2022) H. 9, S. 19 – 22.

(34) Diese Studie von IW Consult im Auftrag der Landesregierung NRW ist abrufbar unter: https://www.wirtschaft.nrw/pressemitteilung/arbeitsplatz-und-wertschoepfungseffekte-rheinisches-revier

(35) Ebenda S. 14.

(36) Ebenda S. 50ff.

(37) Vgl. ebenda S.15.

Author/Autor: Prof. Dr. rer. oec. Kai van de Loo, Forschungszentrum Nachbergbau (FZN), TH Georg Agricola (THGA), Bochum
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