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Buchbesprechung: Dekorrelative Gravimetrie

Bild 1. Willi Freeden, Mathias Bauer unter Mitwirkung von Christian Blick, Erdenebaatar Byamba, Thomas Degro, Zita Hauler, Bernd Jakobs, Laura Mailänder, Thomas Neu und Helga Nutz: Dekorrelative Gravimetrie. 393 Seiten, 2020, Springer Spektrum, ISBN 978-3-662-61907-0, eBook 54,99 €, Hardcover 69,99 €.

Der geowissenschaftliche Kontext von Fragestellungen und Problemen, die in der gravitativen Exploration auftreten, bildet neben einer vollständigen Formulierung des geowissenschaftlich notwendigen Rahmens den Schwerpunkt dieses Buchs (Bild 10). Darüber hinaus wird ein Einblick in den aktuellen Stand der Forschung gegeben, indem die Gravimetrie auf rechenbare (dekorrelierte) Modelle reduziert wird. Die vielfältigen ungelösten Fragen und Probleme der Gravimetrie sollen auf diese Weise einem breiten Kreis von Wissenschaftlern, der Explorationsindustrie, der Rohstoffgewinnung und anderen Berufskollegen bekannt gemacht werden. Die Mathematik dient hier als Schlüsseltechnologie für Modellierungs- und Simulationsbelange auf der Basis der Analyse und Interpretation entsprechend dichter und genauer gravitativer Messungen.

Charakteristisch ist die Brückenfunktion, um einen Kreislauf von den Potentialmessungen durch Geophysiker, über die Bereinigung von Daten durch Geophysiker, über eine anschließende Theorie- und Modellbildung mit Implementierung und numerischer Rechnung bis hin zur Interpretation durch Geologen und Rohstoffingenieuren zu erzeugen. Das Buch spannt somit den Bogen vom Geoingenieurwesen, der Geodäsie (hier speziell die Teile II und III), dem Markscheidewesen, über die Geophysik zur Geomathematik und liefert wegbereitendes und innovatives mathematisches Wissen als Transfermethodologie von gravitativen Messungen zu mathematisch-numerischen Modellierungsstrukturen sowie -lösungen für die Lagerstättenansprache mit neuartigen geologischen Anwendungsbereichen.

Bisher wurde für einen erfolgreichen Einsatz gravimetrischer Untersuchungsmethoden vorausgesetzt, dass die zu detektierenden geologischen Strukturen deutliche Dichtekontraste aufweisen, wie z. B. bei einem Salzstock. Da sich die Dichte im Salzstock prägnant von dessen umgebendem Gestein abhebt, zeigt sich in den gravimetrischen Signalen ein charakteristisches Isolinienbild eines Minimums im Zentrum des Salzstocks. Solche Strukturen lassen sich bisher mit bekannten gravimetrischen Explorationsmethoden genauer charakterisieren und analysieren, sodass aus den gravimetrischen Signalen geeignete Rückschlüsse auf den Salzstock möglich sind. Die in diesem Buch vorgestellte Methodik erhebt den Anspruch, auch die sich weniger abhebenden geologischen Formationen, z. B. außerhalb des Salzstocks, in ihrer Abgrenzung zueinander detektieren zu können. Entscheidendes Hilfsmittel ist dabei eine Waveletdekorrelation, d. h. eine Multiskalendekomposition gravitativer Signaturen, sodass Schichtgrenzen geologischer Formationen sichtbar werden.

Für globale Untersuchungen ist der Lösungsweg über die nicht ortlokalisierenden Kugelfunktionen, den frequenzlokalisierenden, seit P. S. de Laplace, A. M. Legendre und C. F. Gauß Standard in der Geodäsie. Dieses Buch, mit dessen Hilfe es möglich wird, insbesondere lokale Strukturen für die Exploration zu detektieren, behandelt daher im größeren Umfang den ideal ortslokalisierenden Weg mittels lokal-kompakter Kerne mit fester– im Fall von Splines – und variabler Trägerweite – im Fall von Wavelets. Dabei können aber durchaus frequenzbasierte Modellierungen als berücksichtigungsfähige Präinformation in einem ersten Schritt benutzt werden.

Die dem Newtonschen Gesetz innewohnende Integralgleichung bewirkt, dass aus gravimetrischen Informationen normalerweise keine scharfen Konturen des Gravitationspotentials im Untersuchungsgebiet gewonnen werden können. Eine Waveletdekorrelation eröffnet die Möglichkeit, das Signal in verschiedene Signaturbänder zu zerlegen, um so durch „Bandspezifikation“ zu feineren Strukturen zu gelangen. Eine geeignete Umverteilung der Masse lässt jedoch das daraus resultierende Potential unverändert. Dieses Eindeutigkeitsproblem erzwingt für den gravimetrischen Praxisbezug ein gewisses Maß an Vorinformationen im Untersuchungsgebiet. Eine vollständige Rekonstruktion der Dichte nur aus terrestrischen gravimetrischen Messungen ist sogar in Kombination mit Satellitendaten in der Regel nicht möglich. Seismische Informationen, z. B. über die Geologie des Untersuchungsgebiets, sollten aus diesem Grund immer in die Modellierung einfließen. Zur Lösung des inversen Gravimetrieproblems werden zwei methodisch unterschiedliche Ansätze genutzt. Zum einen die Mollifier-Newton-Wavelet Inversion, ein diskretes Inversionsverfahren, das aus Gravitationsdaten ein Untergrundmodell erstellt und dabei bereits bekannte Informationen über das Explorationsgebiet einbezieht, welche die Unwägbarkeiten durch die mathematisch bedingte Situation der Schlechtgestelltheit des Gravimetrieproblems reduzieren bzw. überwinden soll. Die Mollifier-Newton-Waveletfunktionen mit ihren kugelförmigen Trägern werden dabei als Bestandteile eines nichtlinearen Gleichungssystems genutzt, um aus den auf der Oberfläche verfügbaren Gravitationsanomalien ein Dichtemodell lokal im Innern zu erzeugen. Diese Methodik wird als diskreter Ausdruck verstanden, der die bereits bekannten kontinuierlichen Mollifier-Newton-Waveletzugänge in Kombination mit einer neuen „Smoothing-Idee“ benutzt. Zum anderen die Mollifier-Newton-Spline Inversion, die im Wesentlichen ein diskretes nichtlineares Minimierungsproblem ist und in der Anwendung des Newton-Potentialoperators auf der durch den Newtonkern erzeugten Kernfunktion besteht.

Am Beispiel der Region des Saarlands werden wichtige Anwendungsfelder, insbesondere für Areale mit bergbaubedingten Hohlräumen oder dichter Bebauung, aufgezeigt. Die bei der Seismik erfolgreiche Waveletdekorrelation geologischer Strukturen sollte auch für die Potentialmethode der Gravimetrie erschlossen werden, um ihre Wirksamkeit an den durch den Bergbau stark beeinflussten Arealen zu validieren. Das vom BMWi geförderte Forschungsprojekt „Satellitengestützte Potentialverfahren zur geothermischen Exploration“ diente hierzu. In diesem Projekt wurden u. a. die Konzepte zum Einsatz von Potentialmethoden der Gravimetrie zur Ersteinschätzung bei der Planung und Durchführung geothermischer Projekte entwickelt. Die immer leistungsfähigeren Gravimeter mit deutlich verbesserter Messgenauigkeit sowie die rasante Entwicklung der Computer führen zu neuartigen Methoden der Datendekomposition, die als approximative geomathematische Verfahren genutzt werden, und zeigen, dass sich künftig auch schwächere Anomalien erfassen und modellieren lassen. Somit lässt sich die geologische Struktur eines Areals besser interpretieren und durch die Gravimetrie modellieren. Die bereits bekannten Informationen im Testgebiet dienen der Beseitigung von Problemen hinsichtlich Eindeutigkeit und Stabilität im Prozess der Inversion, um mit dem errechneten Resultat möglichst nahe an die bestehende geologische Struktur heranzukommen.

Aus der Sicht des Rezensenten stellt das Buch ein wissenschaftliches Regelwerk für das heutige Geoingenieurwesen dar. Es kann den Kolleginnen und Kollegen der Angewandten Mathematik, Geophysik, Geodäsie oder der Rohstoffgewinnung, die sich mit den diversen Fragestellungen der inversen Gravimetrie beschäftigen, als eine Fundgrube dienen, um die traditionellen Grenzen der geophysikalischen Exploration und auch bestimmter geodätischer Fragestellungen zu überschreiten. Dazu wird ein Einblick in den aktuellen Stand der gravimetrischen Multiskalenforschung vermittelt und nachgewiesen, dass jetzt die Gravimetrie auf einfach zugängliche und somit rechenbare Dekorrelationsmodelle reduziert werden kann und gestattet, Potentialmethoden in der Exploration anzuwenden. Die dekorrelative Gravimetrie ist somit eine neue Explorationstechnik, die als kanonische Innovation aus der Verbindung neuartiger Mess- und Modellierungstechniken resultiert.

Prof. Dr.-Ing. em. Bertold Witte, Aachen

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